Gefahr für Patienten? Wenig Berechtigungen für Notfallsanitäter

Seit fast zehn Jahren gilt das Notfallsanitätergesetz. Darin steht seit einigen Jahren auch explizit, dass Notfallsanitäter „heilkundliche Maßnahmen“ durchführen dürfen, und somit auch Medikamente verabreichen können. Doch welche Medikamente von Notfallsanitätern ohne Notarzt gegeben werden dürfen, oder überhaupt auf dem Rettungswagen sind, hängt in Deutschland vom Rettungsbezirk ab.

Eine REPORT MAINZ-Umfrage zeigt, wie gravierend die Unterschiede sind. Notfallsanitäter kritisieren gegenüber REPORT MAINZ, sie könnten ihre Patienten häufig gar nicht so behandeln, wie sie es für richtig hielten und in der Ausbildung gelernt haben. Für die Patienten kann das im Notfall gefährlich sein.

Notruf, mittags in Köln. Eine Frau liegt am Boden. Für die 79-jährige Solweig von der Osten die schlimmsten Schmerzen ihres Lebens.

Solweig von der Osten
Solweig von der Osten | Bild: SWR

Solweig von der Osten:
„Ich hatte solche Schmerzen. Ich habe nur immer gedacht: Oh, hoffentlich stirbst du gleich. Hoffentlich stirbst du gleich.“

Sie hat einen Oberschenkelhalsbruch. Vom Notdienst erhofft sie sich schnelle Hilfe. Doch die Sanitäter hätten gegen die Schmerzen nichts unternommen, obwohl der Schwiegersohn sie darum gebeten habe. 

Mangelnde Befugnisse für Notfallsanitäter

Jens Thering von der Osten
Jens Thering von der Osten | Bild: SWR

Jens Thering von der Osten, Schwiegersohn:
„Nein, wir sind Sanitäter. Wir dürfen das nicht. Wir dürfen kein Schmerzmittel verabreichen. Dann sag ich: Das kann ja jetzt nicht sein. Die hat Schmerzen und da muss man doch irgendwie helfen.“

Ein Dreivierteljahr nach dem Sturz merkt man der 79-jährigen Solweig von der Osten von der Verletzung gar nichts mehr an. Doch der Notfalleinsatz ist bei der Familie noch immer Thema. Warum haben die Sanitäter nicht direkt geholfen, fragen sie sich. 

Jens Thering von der Osten, Schwiegersohn:
„Für mich war das unterlassene Hilfeleistung. Also ganz klar.“

Die Stadt Köln sagt auf REPORT MAINZ-Anfrage, Notfallsanitäter dürften nur bei Lebensgefahr oder um gesundheitliche Schäden zu verhindern, Schmerzmittel verabreichen. Sie schreiben, es „lag beim gegenständlich[en] Einsatz keine Lebensgefahr vor.“ Heißt: Die Notfallsanitäter durften gegen die Schmerzen von Solweig von der Osten gar nichts unternehmen.

Sorge vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen

Raphael Bronstein ist Notfallsanitäter in München. Auch er darf nur wenige Medikamente geben, ohne den Notarzt nachzufordern - wie vor einigen Wochen, als er zu einem Patienten mit einer schweren Magen-Darm-Blutung gerufen wurde. 

Raphael Bronstein
Raphael Bronstein | Bild: SWR

Raphael Bronstein, Notfallsanitäter:
„Der Patient war kaltschweißig, der Patient war blass. Er war tatsächlich im beginnenden Schock. Der Patient war schwerer Bluter und das Ganze war eine lebensbedrohliche Situation, muss man ganz deutlich sagen.“

Der Patient, so Raphael Bronstein, habe einen Notfallausweis im Geldbeutel gehabt - eine schriftliche Empfehlung, im Notfall ein bestimmtes Medikament zu verabreichen: die Tranexamsäure, ein Mittel, um die Blutung zu verringern.

Doch in Bayern dürfen Notfallsanitäter dieses Medikament nur geben, wenn sie „über den regulären Aus- und Fortbildungsumfang deutlich hinausgehende Bildungsmaßnahmen“ haben. Ob seine vielen Fortbildungen ausreichen, habe ihm noch niemand eindeutig erklären können. Sich überhaupt die Frage stellen zu müssen, ein Problem findet er: 

Raphael Bronstein, Notfallsanitäter:
„Eigentlich gibt’s Situationen, in denen man weniger Zeit darüber verwenden sollte, darf ich was gerade, sondern was braucht der Patient. Und wir reden von Dingen, die wir in unserer Ausbildung durchaus lernen.“

Raphael Bronstein entscheidet, das Medikament zu geben. Andere Kollegen hätten in solchen Situationen wahrscheinlich anders gehandelt, erzählt er. Aus Angst vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen.

Hat Raphael Bronstein richtig gehandelt? Wir bitten die Notärztin Janina Bathe von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin um eine Einschätzung.

Janina Bathe, Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI):
„Ich würde sagen, in meinen Augen hat dieser Notfallsanitäter richtig gehandelt. Insgesamt ist auch Tranexansäure ein Medikament, wo man relativ wenig mit falsch machen kann.“

Knapp zehn Jahre Notfallsanitätergesetz

Helfen - oder nicht helfen? Fragen, die sich Notfallsanitäter bundesweit eigentlich nicht mehr stellen sollten. 

Seit fast zehn Jahren gilt das Notfallsanitätergesetz. Seit 2021 steht darin explizit, dass Notfallsanitäter unter bestimmten Umständen heilkundliche Maßnahmen durchführen dürfen, heißt: auch Medikamente geben. Warum funktioniert das nicht in der Praxis?

Die Rettungsdienstschule Hessisch Lichtenau.

Johannes Jakobi, Auszubildender:
„Schönen guten Tag, der Rettungsdienst.“

Johannes Jakobi ist gerade frisch ins zweite Ausbildungsjahr gestartet. Mit seiner Mitschülerin Lea Fiedler muss er einen Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt versorgen. Zunächst misst er den Herzschlag, legt dann einen Venenzugang.

Heute dürfte er hierüber das Schmerzmittel verabreichen. Ob er das auch nach der Ausbildung darf, hängt vom Einsatzort ab.

Bundesweiter Flickenteppich an Regelungen und Medikametenausstattung

Denn obwohl die dreijährige Ausbildung bundesweit einheitlich geregelt ist, entscheidet jedes Bundesland und jeder Rettungsdienstbezirk für sich, was Notfallsanitäter in der Praxis machen dürfen.

Und das bestimmt in den meisten Fällen der jeweilige Ärztliche Leiter Rettungsdienst.

Johannes Jakobi
Johannes Jakobi | Bild: SWR

Johannes Jakobi, Auszubildender:
„Leider können wir das so, wie wir es jetzt hier geübt haben, nicht in der Realität machen, weil es immer die Vorschriften des Kreises gibt - der Kreis gibt vor, was wir dürfen und was nicht - die unser ärztlicher Leiter uns vorgibt. Und je nach Kreis ist das wieder sehr unterschiedlich und wir haben sehr wenig Medikamente. Zum Beispiel jetzt in dem Fall das ASS, was wir nicht geben könnten für den Herzinfarkt. Sie werden gar nicht auf unsere Autos verlastet, es wird für uns nicht zu Verfügung stehen, dass wir da irgendwas geben können.“

Und wie das aussieht, zeigt uns Lea Fiedler. 

Lea Fiedler, Auszubildende:
„Es gibt auch Kreise, wo komplett die Seite voll ist, wo alle Medikamente drin sind. Bei uns sieht es so aus.“

Zum Vergleich: Bilder aus anderen Kreisen in Deutschland. Sie wurden uns zugespielt. 

Der zuständige Ärztliche Leiter Rettungsdienst schreibt dazu auf Anfrage von REPORT MAINZ, die Ausstattung sei ausreichend da „die Behandlung aller lebensbedrohlichen Krankheitsbilder damit möglich“ sei.

Die Fotos zeigen wir Hans-Martin Grusnick, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst in Nordfriesland. In seinem Kreis sind viele Medikamente freigegeben. Was er hier sieht: für ihn unbegreiflich.

Hans-Martin Grusnick
Hans-Martin Grusnick | Bild: SWR

Hans-Martin Grusnick, Kreis Nordfriesland - Ärztliche Leitung Rettungsdienst:
„Es schockiert mich, dass es solche so geringe Ausstattung gibt. Ich bezweifle, dass man damit dem Versorgungsauftrag des Patienten ernsthaft gerecht werden kann.“

Umfrage zeigt Unterschiede bei Medikamentengabe

Wir wollen wissen, wie viele Medikamente Notfallsanitäter verwenden dürfen, ohne einen Notarzt nachzufordern - machen eine nicht repräsentative Umfrage. Und fragen bundesweit in 299 Rettungsdienstbezirken, 120 antworten uns. Durchschnittlich dürfen Notfallsanitäter 17 Medikamente selbstständig ohne Notarzt verabreichen. In Nordfriesland sind es 38, in Bayern landesweit nur vier, in Bottrop ist es nur ein einziges Medikament.

Fehlendes Material auf Rettungswagen?

Mehrere Notfallsanitäter aus einem Bezirk in Rheinland-Pfalz berichten uns außerdem von fehlenden Materialien: sogenannten Israeli-Bandages, speziellen Wundverbänden zur Versorgung von Schwerstverletzten. Sie haben Angst, ihre Aussagen könnten sie ihren Job kosten. Deshalb stellen wir das Gespräch nach. 

Notfallsanitäter (Szene nachgestellt):
„Sie haben dann jemanden vor sich, der extrem stark blutet, und sie drücken dann behelfsmäßig mit Kompressen auf die Wunde. Das ist schon sehr unbefriedigend. Wir mussten uns auch schon Material von der Polizei geben lassen. Die sind besser ausgestattet als wir!“

Einige Kollegen hätten sich deshalb in den vergangenen Monaten selbst Material gekauft. Es fehle auch an bestimmten Nadeln zur Entlastung der Lunge - etwa nach einem Autounfall. Stattdessen sollten sie solche Kanülen nutzen, die nicht stabil genug seien.

Das zuständige Büro der Landrätin antwortet, es könne die Vorwürfe nicht nachvollziehen. Die Ausstattungsliste sei „zuletzt im August (…) aktualisiert“ worden. Doch eine Ausstattungsliste vom September zeigt, dass sich nichts geändert hatte.

Erst einige Zeit nach der REPORT MAINZ-Anfrage, bestätigen die Notfallsanitäter, sei das für sie so wichtige Material nun endlich vorhanden.

Verstecken von Medikamenten unter Fahrersitz

Wir sprechen mit vielen Notfallsanitätern aus ganz Deutschland, hören von heimlich unter dem Fahrersitz versteckten Medikamenten, und von Notfallsanitätern, die sich weigern, in bestimmten Bezirken zu fahren, weil wichtige Medikamente fehlten.  

Forderung nach Vereinheitlichung

Unzureichende Ausstattung, häufiges Warten auf den Notarzt: Aus Sicht von Janina Bathe kann das im Zweifel unnötigerweise Patienten schädigen.

Janina Bathe
Janina Bathe | Bild: SWR

Janina Bathe, Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI):
„Meine Forderung wäre eine deutliche Vereinheitlichung der Kompetenzen, die den Notfallsanitätern zugesprochen wird. Das, was wir ausbilden, sollte auch auf die Straße gebracht werden.“

Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat kürzlich mehr Einheitlichkeit im Rettungsdienst angekündigt. Dazu gibt es verschiedene Vorschläge, die Bund und Länder gerade verhandeln. Doch die Länder werden ihre Zuständigkeit im Rettungsdienst wohl nicht ohne Widerstand einschränken lassen.

Stand: 02.11.2023 17:02 Uhr