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Ägypten: Krieg gegen die eigene Jugend

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Ägypten: Krieg gegen die eigene Jugend | Bild: ARD

Plötzlich ist Esraa weg. Am Abend ist sie mit Freunden in einem Restaurant am Nil essen, dann verschwindet die 23-jährige Studentin aus Kairo – wie viele Menschen in Ägypten. Die Familie sucht verzweifelt nach ihr, startet eine Kampagne im Internet. Erst zwei Wochen später finden sie die junge Frau. In einem Gefängnis. Ein typischer Fall, sagen Menschenrechtsaktivisten. Ägypten erlebe zurzeit eine regelrechte Entführungswelle. Im Fadenkreuz: angebliche Dissidenten, Oppositionelle, Sympathisanten der verbotenen Muslimbruderschaft.

Ungewissheit bei Familie und Freunden

Es könne jeden treffen, den der Staat zum Feind erklärt. Die Entführer sind meist Sicherheitskräfte in Zivilkleidung, sie nehmen die Verdächtigen auf offener Straße, in Privatwohnungen, in Cafés, und sogar auf dem Gelände staatlicher Universitäten fest. Die Familien bleiben oft im Ungewissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Einige verschwinden für immer, manche werden tot aufgefunden mit fürchterlichen Folterspuren. Die ARD-Korrespondenten Kristin Becker und Eric Beres über totalitäre Praktiken im heutigen Ägypten.

Suchaufruf auch im Intranet: Esraas wird bei Facebook gesucht
Im Internet suchen Freunde verzweifelt nach der Studentin, wie hier bei Facebook | Bild: SWR

"Das ist ein Fotos von Esraa. Wir sind jetzt in ihrem Zimmer, aber sie ist nicht hier. Für mich ist das wirklich schlimm." Duaa El-Taweels Schwester Esraa verschwindet Anfang Juni – scheinbar spurlos. Mitten in Kairo. "Sie ist mit zwei Freunden ausgegangen zum Essen in ein Restaurant am Nil. Bis abends um neun hatten wir noch Kontakt zu ihr. Aber dann war sie plötzlich nicht mehr zu erreichen. Ihr Handy war ausgeschaltet. Wir haben alle ihre Bekannten angerufen. Aber niemand wusste irgendwas."

Die Männer waren in Zivil

Die 23-jährige Studentin ist an jenem Abend unterwegs mit ihren Freunden Omar und Souheib – auch die beiden kehren nicht nach Hause zurück. Quälende Ungewissheit zermürbt die Familie. Die Großmutter verzweifelt. Polizei und Justiz behaupten nichts von Esraa zu wissen. Die Familie sucht überall. Auch im Internet. Per Facebook. Schließlich entdeckt eine Bekannte Esraa zufällig bei einem Gefängnisbesuch. Die Familie weiß jetzt, dass sie lebt und sie erfährt, was am Abend ihres Verschwindens geschehen ist. "Vor dem Restaurant haben sie drei Männer in Zivil entführt. Sie haben ihr die Augen verbunden, sie in einen Transporter gesteckt. Esraa hat gefragt: Wer seid ihr, was ist los? Einer der Männer sagte: ich bin Offizier, halt den Mund."

Klar ist: Esraa ist von staatlichen Sicherheitskräften verschleppt worden. Die Vorwürfe, die nachträglich erhoben werden, sind diffus – die junge Fotografin soll gegen den Staat gehetzt haben, mit Terroristen im Bunde sein. Vielleicht geht es um Fotos wie diese, die sie bei Demonstrationen in den letzten Jahren gemacht hat. Doch 2014 wird Esraa bei einer Kundgebung angeschossen, kann seitdem kaum noch laufen und ist politisch nicht mehr aktiv, sagt ihre Familie.

So wie Esraa werden auch ihre beiden Freunde Aumar und Sohaib in einem Gefängnis entdeckt. Ebenso zufällig. Die Behörden behaupten nun: Die jungen Männer sollen Mitglieder einer Terrorgruppe sein und Anschläge geplant haben. Ein Video-Geständnis wird veröffentlicht. Sie wurden dazu gezwungen, sagen ihre Geschwister. Wir treffen sie nach einem Gefängnisbesuch. Sie berichten von Folter. "Sohaib wurde 3 Tage lang an seinen Händen aufgehängt", erzählt Osama Saad, der Bruder von Sohaib. "Sie haben ihn mit Elektroschocks traktiert. Er ist immer wieder in Ohnmacht gefallen, während sie ihn gefoltert haben." Und Sara Ali, die Schwester von Omar, ergänzt: "Sie haben Zigaretten auf Omars Rücken ausgedrückt. Er hat längere Zeit nichts zu Essen bekommen. Er wurde überall geschlagen und man hat ihn nackt ausgezogen."

Alle Anträge bei Gericht wurden abgelehnt

Auch Esraa geht es schlecht in der Haft. In einem Brief an die Schwester beschreibt sie, was sie im Gefängnis erlebt: Zwei Wochen lang sitzt sie mit verbundenen Augen in ihrer Zelle, hört die Schreie der Mitgefangenen. Esraa hat Angst, und sie bekommt nicht die medizinische Behandlung, die sie wegen ihrer Behinderung eigentlich dringend bräuchte. Das Gericht für Staatssicherheit in Kairo. Inzwischen ist Esraa seit fast zwei Monaten in Untersuchungshaft. Heute soll entschieden werden, ob sie vielleicht freikommt. Die Familie hofft, wieder einmal. Das, was mit Esraa passiert ist, ist absolut illegal, sagt ihr Anwalt. Die erste Befragung habe 18 Stunden gedauert – ohne, dass Esraa einen Anwalt hatte. Aber auch jetzt könne er nicht viel tun. "Die Anklagen gegen sie haben wir Anwälte bis heute nicht gesehen", sagt Halim Hanish, Esraas Anwalt. "Die Anklageschrift hat 48 Seiten. Aber die Staatsanwaltschaft lässt uns keine Einsicht nehmen. Jeder Antrag wurde abgelehnt."

Große Verzweiflung unter Esraas Familie und Freunde
Große Verzweiflung unter Esraas Familie und Freunde

Und auch dieses Mal: schlechte Nachrichten. Der Staatsanwalt lehnt es ab, Esraa freizulassen. Erklärungen gibt es keine. "Wir können nichts machen", klagt Esraas Schwester." Sie muss weiter im Gefängnis bleiben. Wir können ihr nicht helfen." Es ist unerträglich für Esraas Mutter, ihre Geschwister und Freunde: Erst in zwei Wochen soll ihr Fall erneut geprüft werden. Wie Esraa kann es jeden in Ägypten treffen, sagt die Familie. Sie fühlt sich einem übermächtigen System ausgeliefert.

Stand: 09.07.2019 01:12 Uhr

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