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Japan: Arbeiten bis zum Umfallen

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Japan: Arbeiten bis zum Umfallen | Bild: WDR

"Ich schlafe erst vormittags nach der Arbeit. Nachts bin ich wach. Alles verschiebt sich, ich lebe in einer anderen Zeit. Der Schlafmangel ist extrem. Deshalb bekomme ich manchmal Probleme in der Prüfung. Und die Arbeit wird immer mehr, Jahr für Jahr. Aber der Stundenlohn bleibt gleich. Da fühle ich mich betrogen", beschwert sich der Student Taro Yoshida.

Taro studiert Geschichte. Und lebt ein Doppelleben. Seit fünf Jahren. Tagsüber Uni, nachts Konbini – Japans Mini-Supermarkt an jeder Ecke. Schicht ist von abends zehn bis morgens sechs, bis zu viermal die Woche. Auch am Stück. Stundenlohn: knapp acht Euro. Überstunden? Ja. Bezahlt? Nein: "Ein Mitstudent, der arbeitet noch mehr als ich. Der hatte null Punkte in der Prüfung. Wenn Festangestellte so arbeiten, ok. Aber wenn sie alles auf Teilzeitkräfte abwälzen, dann finde ich das nicht in Ordnung."

Tod durch Überarbeitung

Dieser junge Japaner ist nach einer Nachtschicht übermüdet tödlich verunglückt
Dieser junge Japaner ist nach einer Nachtschicht übermüdet tödlich verunglückt | Bild: WDR

Japan: Arbeitsplatzgarantie, stetig steigender Lohn, üppige Pension. Gibt’s kaum mehr, aus, vorbei. Die Wirtschaft siecht dahin, gute Jobs sind rar. Not sucht Gelegenheit – und findet Ausbeutung in Dienstleistung, Gastronomie und Einzelhandel. Fast 40 Prozent schuften schon ohne festen Vertrag – 20 Millionen Japaner – wie die Roboter, oft bis zum Umfallen.

Kota Watanabe: tot. Mit 24. Früh morgens prallt er mit dem Moped gegen einen Strommast – völlig erschöpft, nach einem 22-Stunden-Arbeitsexzess. Die Mutter Junko Watanabe sagt, der Wahnsinn habe schon ein halbes Jahr lang getobt, im Schnitt mehr als 100 Überstunden pro Monat: "Mein Sohn wurde von Beginn an nur ausgenutzt. Die Unternehmen wissen um die Not der jungen Leute und zwingen sie zu unmenschlicher Arbeit. Dann werfen sie sie weg. Ich glaube, das hat Methode. In Japan ist Geduld eine Tugend. Das galt auch für Kota, auch ich habe ihn so erzogen."

Jetzt plagen die Mutter Depressionen. Sie hatte ihrem Sohn geraten, die Stelle in einer Dekorationsfirma anzunehmen. Die Anzeige versprach einen festen Vertrag, feste Arbeitszeiten. Alles gelogen. Frau Watanabe zieht nun vor Gericht. Damit es, wie sie sagt, nicht noch mehr Opfer gibt. Ihr Anwalt Takuya Kawagishi rechnet vor und diagnostiziert einen Sklavenjob: "Ich habe hier die Gesamtarbeitszeit im Monat vor Kotas Tod. Er hat 130 Überstunden gemacht. Wenn das Gericht das bestätigt, wäre das dem Gesetz nach 'Karoshi', Tod infolge von Überarbeitung. Und die Unfallursache wäre bewiesen." Die Mutter klagt auf Schmerzensgeld – doch viel lieber hätte sie ihren Sohn zurück.

Früher ein Zubrot, heute ein Fulltime-Job

Zahlreiche Jobs fallen gleichzeitig an - in der Nachtschicht in Japans Supermärkten
Zahlreiche Jobs fallen gleichzeitig an - in der Nachtschicht in Japans Supermärkten | Bild: WDR

Wohl dem, der in Japan nicht in der Teilzeitfalle steckt. Denn was früher ein Zubrot war, ist heute oft ein Fulltime-Job – mit viel Verantwortung, doch für wenig Geld. Die Latte im japanischen Konbini zum Beispiel liegt jedes Jahr höher. Wer hier den Laden schmeißt, ist ein moderner Zehnkämpfer: Waren ordern, Kartons auspacken. Kühlschrank füllen, Regale sortieren. Friteuse befeuern, Kaffee kochen. Zeitschriften ordnen, Kopierer bedienen. Kurierdienst spielen, Tickets ordern. Bank ersetzen, Rechnungen zahlen, Kasse machen. Dann: Spülen, putzen, saubermachen. Im Konbini brennt immer Licht, und wer’s nicht nach Hause schafft, bekommt hier auch noch Anti-Kater-Drinks und Damenstrümpfe. Und es gibt Läden, da macht das einer – alles – alleine.

"Wenn ich Leute beschäftige, muss ich den Vertrag mit der Zentrale beachten. Der ist nur schwer zu verstehen. Aber es ist so, dass ich auf zusätzlichen Personalkosten sitzen bleibe, selbst, wenn viel zu tun ist oder ich mehr Umsatz machen möchte", so Yoshifumi Mitsui, Ladenchef eines '7Eleven' und Gewerkschafter.

Heißt: Dieses System, ein 70-Milliarden-Euro-Markt, beutet sogar den Boss aus. Viele Konbini-Chefs schieben endlos Überstunden. Mitsui ist sauer, deshalb dürfen wir auch bei ihm filmen. Sonst herrscht Drehverbot. Seine Kette wurde jüngst zum schlimmsten Arbeitgeber Japans gekürt – Goldmedaille. "Es gibt noch kein Gesetz für unsere Branche, das Rechte und Pflichten bestimmt. Japan ist das einzige Land auf der Welt ohne ein Franchise-Gesetz. Hm, jetzt hab’ ich den Faden verloren – ich glaube, ich bin einfach zu müde ...", fügt Yoshifumi Mitsui an.

Ausbeutung in allen Arbeitsbereichen

Lawson, zweitgrößte Konbini-Kette Japans: 12.000 Filialen, 220.000 Mitarbeiter, zehn Millionen Kunden täglich. Genichi Tamatsuka, der Chef. Ich zeige ihm eine Liste: 20 fürchterliche Fälle aus der Arbeitswelt, darunter auch Tod durch Überarbeitung: "Es kann so nicht weitergehen, wenn unser Geschäftsmodell funktionieren soll. Deshalb gehen wir jetzt direkt in die Filialen und schauen uns die Arbeitszeiten an. Dafür haben wir etwa 1200 Kontrolleure, jeder von ihnen überwacht acht bis neun Geschäfte", kommentiert er.

Und er durchwacht die Nacht: Taro, der Student. Japan läuft Gefahr, eine ganze Generation zu verlieren – an Teilzeitjobs: schlecht bezahlt, später verarmt, unverheiratet, kinderlos – ein Teufelskreis. Denn die größte Sorge, der Bevölkerungsschwund, wird sich so noch verschärfen.

"So um drei, vier Uhr ist es am schlimmsten. Ich bin dann so müde, da kann ich kaum noch stehen. Hinten im Laden hängt ein Zettel mit einer Notrufnummer bei psychischen Problemen. Ich nehme an, solche Leute gibt es." Wenig später ist Schluss, um sechs Uhr früh hat ihn die Schicht endlich geschafft: "Heute habe ich erst nachmittags ein Seminar. Ich schlafe also bis gegen Mittag. Ich bin sehr müde und habe noch nichts vorbereitet. Es ist anstrengend", verabschiedet sich Taro Yoshida.

Autor: Uwe Schwering/ARD Studio Tokio

Stand: 11.07.2019 21:31 Uhr

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