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Spanien: Die Krise als Chance

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Spanien: Die Krise als Chance | Bild: WDR

Bodenständig geht es zu, in der Kleinstadt Briviesca im Norden Spaniens. Wir sind in der Provinz Kastilien. Hier bleibt die Kirche im Dorf, und das Rathaus konservativ. Doch dann im Juni die Revolution – Marcos Peña von einer links-alternativen Liste wurde zum neuen Bürgermeister gewählt und kann das bis heute kaum fassen.

Aber erklären kann er es sehr schnell: die Krise hat Briviesca fest in ihrem Griff. Die Menschen sind frustriert. Überall leere Geschäfte und zugemauerte Wohnhäuser. Früher galt das Städtchen als Job-Paradies, nun liegt die Arbeitslosigkeit bei fast dreißig Prozent.

Marcos Peña, Bürgermeister Briviesca:

»In Madrid sagen sie, die Krise sei vorüber. Aber für die kleinen Leute auf dem Land und auch in den großen Städten stimmt das nicht. Der Aufschwung findet vielleicht im Fernsehen statt, aber bei uns kommt er nicht an.«

Auf dem Marktplatz sieht man fast nur Rentner und Kinder – viele Menschen sind abgewandert. Und wenn Neu-Bürgermeister Marcos Peña über Brüssel, Griechenland und die aktuelle Lage diskutiert, erntet er viel Zustimmung. Über das "Ende der Krise" können sie hier nur lachen.

»Nein, vielleicht wird es irgendwann einmal besser, aber wir müssen den Gürtel doch immer enger schnallen.«

»Natürlich sollte man den Griechen helfen, aber sie müssen sich an die Regeln halten. Sehen Sie, auch Spanien gibt Athen viel Geld, das wir hier gut gebrauchen könnten.«

Das Industriegebiet von Briviesca – fast die Hälfte der Produktionshallen steht leer, von Aufschwung keine Spur. Marcos Peña bringt uns zu einer Fabrik, in der früher Haushaltsgeräte hergestellt wurden – das war einmal.

Spanien wachse derzeit vielleicht im Tourismus-Bereich, meint der Bürgermeister, aber kleine und mittelständische Betriebe kämen kaum an Kapital heran. Länder wie Spanien und Griechenland bräuchten deshalb massive Konjunkturprogramme.

Marcos Peña, Bürgermeister Briviesca:

»Es fehlt Geld, um solche Fabriken wiederaufzubauen und solche Investitionen in Gang zu bringen. Noch mehr Sparprogramme machen keinen Sinn, so gibt es kein Wachstum.«

Aber im tristen Gewerbegebiet findet sich auch ein Lichtblick: die Textilfirma Antonaga. Geboren wurde sie, mitten in der Krise, aus der Not. Vor vier Jahren machte in Briviesca ein großes Traditionsunternehmen, bekannt für seine Herren-Maßanzüge, dicht – alle 200 Mitarbeiter wurden entlassen. Doch fünf der arbeitslosen Schneider nahmen all ihren Mut zusammen und teure Kredite auf und gründeten einen neuen Betrieb. Mittlerweile beschäftigen sie schon wieder dreißig ihrer früheren Kollegen. Und der Jahresumsatz liegt schon wieder bei einer Million Euro.

Jorge Ruiz,  Textilfirma Antonaga:

»Das erste Jahr war sehr hart. Wir haben viel investiert, Geld und Arbeit, aber sahen überhaupt keine Fortschritte. Glücklicherweise kann ich jetzt sagen, dass wir nun, 2015 die Früchte unserer Anstrengungen ernten können.«

Die fünf Firmengründer sind noch immer hochverschuldet – sie gehen ein großes persönliches Risiko ein. Aber ihre Angestellten danken es ihnen – viele von ihnen hatten nicht mehr damit gerechnet, in Briviesca einen Job zu finden.

»Für mich ist das wie ein Traum, dass ich noch in meinem Alter weiterarbeiten kann, und in meinem Beruf, den ich so lange ausgeübt habe.«

»Wir haben im alten Betrieb 30 Jahre geschuftet, dann war Schluss. Was für ein Glück, dass wir hier weitermachen können.«

Der Höhenflug der tapferen Schneider ist wohl kein Beispiel für Spaniens Aufschwung, sondern eher für persönlichen Mut. Aber die meisten Menschen in Briviesca haben die Geduld verloren – zu trostlos erscheint die gegenwärtige Lage. Auch deshalb hat es diesen überraschenden Machtwechsel im Rathaus gegeben.

In einer Kneipe treffen sich Sympathisanten der alternativen Liste. Der neue Bürgermeister ist ihr Hoffnungsträger, aber man weiß auch: wie es weitergeht in Briviesca, das hängt von den Entscheidungen im fernen Brüssel ab.

»Wir beobachten mit Sorge diese Debatte. Denn wenn Griechenland fällt, dann sind wir doch nicht weit.«

Marcos Peña, Bürgermeister Briviesca:

»Das beunruhigt uns, dass Europa auseinanderbrechen könnte. Wir glauben an ein gemeinsames Europa, aber es soll ein Europa der Menschen sein, und nicht der Märkte und des Geldes.«

Ungewohnt deutliche Worte aus dem konservativen Kastilien, dem Herzen Spaniens. Die Krise ist hier noch längst nicht vorbei.

Autor: Stefan Schaaf/ARD Studio Madrid

Stand: 08.07.2019 21:20 Uhr

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