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Philippinen: Kindermut

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Philippinen: Kindermut | Bild: SWR

Wenige Wochen erst ist es her, da wurde ihre Welt in Sekunden zerstört. Der Taifun Haiyan riss Häuser, Hütten und Menschen mit sich. Viele Kinder verloren Geschwister, Eltern. Vier Wochen nach der Katastrophe beginnt ein vorsichtiger Alltag. Unser Asien-Korrespondent Philipp Abresch hat an Hunderte Betroffene Einwegkameras verteilt, mit denen sie eine Woche lang ihr Leben zwischen Trümmern dokumentieren konnten. Ein bewegendes Zeugnis von vorwiegend Kindern, die mit Kraft und Phantasie ihre Welt wieder aufbauen wollen. Philipp Abresch, ARD Tokio

Durch diese Trümmer bin ich als Journalist schon so häufig gelaufen. Und habe mir ein Bild gemacht. Vom Leben in Tacloban nach dem Super Taifun. Heute drehe ich das ganze um. Diesmal sollen die Bewohner selbst ihren Alltag festhalten. Und zwar die Kinder. Ein Experiment mit Einwegkameras. "Uns geht es nicht besonders gut", sagt Nava. "Aber ich freu mich, dass ich anderen Menschen zeigen kann, wie wir jetzt leben.“ Ein Blick mit den Augen der Kinder: Das gestrandete Schiff, das landende Hilfsflugzeug. Schnappschüsse aus einer irgendwie seltsam verdrehten Welt. Fast 4000 Fotos werden insgesamt entstehen. In der ganzen Stadt verteile ich die Kameras. Im Fußballstadion, jetzt ein Flüchtlingslager, in der Trümmersiedlung Anibong, am Flughafen und in den Vierteln am Stadtrand. An Gillian (44), Ronald (16), Paquito (45), Jobell (21), Edgebell (7), Hazel Ann (12). 100 Kameras an 100 Fotografen.

Vater mit Kind
Die Fotografen dokumentieren ihr Leben nach dem Taifun | Bild: SWR

Hier in Anibong hat der Sturm fast alle Häuser zerstört. Über hundert Menschen sind gestorben. Tagelang hatten die Überlebenden Durst und Hunger. Jetzt langsam kehrt das Leben zurück. Und Jasmine, Tiny, Nava, Julius, die eine Woche lang ihr Viertel fotografiert haben, können kaum erwarten, endlich ihre Fotos in den Händen zu halten. "Der Berg ist mein Lieblingsfoto“, sagt Julius. "Als das Wasser angestiegen ist, habe ich richtig Angst bekommen. Ich bin nur noch losgelaufen. Den Berg hoch. Ohne Berg wäre ich nicht mehr am Leben.“ "Ich finde, dieses Bild ist mir besonders gut gelungen“ meint Jasmine. "Wir haben keinen Strom und kein Licht. Also machen wir Feuer. Ausserdem sehen wir, wenn die Diebe ins Viertel kommen.“ Momentaufnahmen aus einem entrückten Leben. Die Zwillinge auf einer umgestürzten Palme. Das Frachtschiff inmitten der Hüttensiedlung. Die Bilder sind schräg, skurril, traurig, berührend. Und häufig überraschend komisch.

Auch Bernadette, die alle hier Spaghettigirl nennen - wegen ihrer lockigen Haare – auch sie hat in Tacloban fotografiert. Ausgehoben gleich neben Bernadettes Hütten-Siedlung: Ein Massengrab! Zum Spatenstich hat der Bürgermeister eine kurze Ansprache gehalten. Die Kinder aus dem Dorf waren dabei. Danach kamen ganz unfeierlich die übervollen Laster mit den vielen Toten. Es waren hunderte. "Jedes Mal, wenn ich mit meinen Freundinnen an diesem Grab vorbeigehen muss, dann fangen wir an zu rennen“, sagt Bernadette. "Mir machen all die Toten wirklich Angst. Mein Bruder hat hier sogar schon mal einen Geist gesehen.“ Nie wieder will Bernadette so einen schrecklichen Sturm erleben. Stundenlang haben sich ihre Eltern an dieser Palme festgehalten. Dann das herumfliegendes Wellblech. Viele haben sich daran schrecklich verletzt. Von Bernadettes Haus ist nichts weiter übrig geblieben als ein paar Latten aus Holz und Bambus. Und sogar das Haus aus Stein ist in sich zusammengefallen -  bei Delma und Christine. All das haben sie festgehalten. Mit ihren Einwegkameras. "Der Sturm hat vieles kaputt gemacht. Am meiste vermisse ich mein Lieblingskleid. Und dann habe ich noch einen Wunsch: wenn das alles vorüber ist, eines Tages, werde ich Miss World.“ Es gibt auch wieder grosse Träume in Tacloban. Miss World zum Beispiel. Oder ganz bescheidene: ein neues Dach über dem Kopf.

Junge vor Zelt
Die Kinder von Tacloban erobern sich die Welt zurück | Bild: SWR

Im Viertel Anibong wird überall aufgeräumt. Gehämmert, geschleift, gesägt. Aus dem Holz der alten Hütte baut Navas Vater eine neue. Und die Mutter von Alvin rettet nach und nach die Teddybären ihres Sohnes aus den Trümmern. "Jetzt bauen wir alles wieder auf“, sagt Nava. "Ich will wieder ein Haus haben, in dem ich durchatmen kann, mich ausruhen kann. So, dass ich an nichts schlimmes mehr denken muss.“ Die Kinder von Tacloban – erobern sich die Welt zurück. Mit ihren Kameras. Mit viel Kraft, Kreativität und Lebensmut. Spielende Kinder. Ein Neugeborenes in der Wellblechhütte. Langsam erwacht die Stadt zum Leben. I love Tacloban!

Stand: 15.04.2014 10:36 Uhr

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