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Großbritannien: Einwanderer unerwünscht?

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Großbritannien: Einwanderer unerwünscht? | Bild: SWR

Aus dem kleinen Städtchen Boston in England wanderten vor bald 400 Jahren viele Einwohner in die USA aus und gaben der dortigen Stadt Boston ihren Namen. Jetzt beklagt das Städtchen zu viel Einwanderung aus Osteuropa. Ein zentrales Thema für rechtspopulistische Stimmenfänger im Wahlkampf für ein neues Parlament in Großbritannien. Eine Stimmungsbild von ARD-Korrespondentin Hanni Hüsch, Studio London.

Vielleicht ist es ja nur die Ebbe – aber es liegt etwas Melancholisches über der kleinen Fischerflotte von Boston. Nur die "Cally" macht noch die Leinen los, raus aufs Meer um noch eine Fuhre Muscheln abzufischen. "Guckt Euch um in Boston, ihr werdet sehen, dass die Leute leiden und sprecht mit meinem Bruder", ruft der Skipper noch gegen das Knattern des Motors an, dann nimmt die "Cally" an Fahrt auf.

Boot im Hafen von Boston
Einst war Boston Ausgangspunkt für Auswanderer in Richtung USA.

Käpt‘n Kenny ist ein rauer Kerl, er ist der Sprecher der Boston Fischer und in mieser Laune. Zulange schon ist er nicht mehr rausgekommen auf See, zu viel Zeit zum Ärgern – über die in Brüssel. Und ihre Fangquoten. "Wir sind nicht mehr Großbritannien, nenn‘ uns kleines Britannien und wir werden nie wieder groß sein, solange wir in der EU sind. Wir haben überhaupt keine Macht mehr, man sagt uns, was wir zu tun und zu lassen haben. Und am Ende schreiben die uns noch vor, wann wir abends das Licht ausmachen sollen." Und dann die Sache mit den Ausländern – Boston sei voll von Ihnen, auch sein Enkel finde da draußen keinen Job mehr. "Die Jobs bekommen nur noch die Ausländer." "Und wie fühlt sich das an?" "Krank, total krank."

Dann fährt eine Limousine vor und ihr entsteigt Nigel Farage, der Spitzenkandidat der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei. Möglicherweise lässt sich Boston für seine Partei gewinnen, hier verfangen seine "Raus aus der EU"-Parolen und sein Feldzug gegen die Arbeitsimmigration aus Osteuropa. "Was bringt dem Land der EU Ausstieg?" "Gucken sie sich doch hier um und sprechen mit den Fischern, dann sehen sie den Schaden für unser Land – ganz einfach". So einfach offensichtlich, dass es keiner weiteren Antworten bedarf.

Ängste und Vorurteile

Marktplatz von Boston
Polnisch, litauisch oder lettisch gehört in Boston inzwischen zum Alltag. | Bild: SWR

Aber die suchen wir im Herzen Bostons. Auf dem Marktplatz. Hier kommt die Stadt zusammen. Es wird schnell deutlich: Ins englische Idyll haben sich andere Farben geschlichen. Und auch Töne. Polnisch, litauisch, lettisch – hören wir und sehen, dass sich die Wege der Menschen eher nicht kreuzen. Nirgends anders ist der Anteil der EU-Einwanderer so hoch und so schnell gewachsen wie hier in Boston. Jeder Zehnte stammt aus Osteuropa. Es hat sich eine dumpfe Wut gegen die Zuwanderer angestaut, eine unheilvolle Mischung aus Verlustangst und Vorurteil. "Die Osteuropäer sind ein Riesenproblem. Es gibt jetzt mehr Verbrechen in der Gegend und sie überrennen unser Gesundheitssystem."

Von hier oben weitet sich der Blick. Boston, die Stadt am Meer, hat eine stolze Vergangenheit. Die Stadt nährt das Land. So weit das Auge reicht – Landwirtschaft. Seine Narzissen schickt Robin Buck nach Holland, nach Deutschland und sogar bis nach Amerika. Über 250 Arbeiter hat er zur Ernte im Einsatz gehabt, meist waren es Balten, aber auch Polen. Jetzt geht die Saison zu Ende. Knochenarbeit – bücken, zupfen im Akkord, sechs Pence pro Bund. Dank der Arbeiter aus Osteuropa konnte Farmer Buck sogar expandieren. "Vor der Osterweiterung war es unendlich schwierig, Arbeiter zu finden. Und ehrlich, die Einheimischen waren auch nicht so gut."

Ein Job für drei Männer

Wahlkämpfen ist ein mühsames Geschäft. Vor allem wenn du ein Labour Mann im konservativen Boston bist. Paul Gleeson putzt Klinken, traktiert Briefschlitze, aber hier, wo die Ausländer wohnen, öffnen sich die Türen nicht. Dabei könnte man hinter so mancher die Wahrheit entdecken, über geldgierige Vermieter und skrupellose britische Gangmaster, die Arbeiter ausbeuten und auf eine Stelle gleich drei Männer setzen. So lassen sich Steuern hinterziehen. "Der Markt ist kaputt in Boston, weil es zu viele gibt, die die neuen Arbeiter ausbeuten." "Ist es Gier?" "Es gibt zu viele Anreize, viele Menschen hierhinzulocken, weil Du mit Ihnen Profit machen kannst."

Frau schaut aus Fenster
Viele Briten sehen die Einwanderung aus Osteuropa mit Skepsis. | Bild: SWR

Klein Polen nennen sie in Boston die Weststreet. Hier haben sich in den letzten Jahren viele Osteuropäer mit kleinen Geschäften selbständig gemacht. Immer freitags spielen sie gegen das Heimweh an. Ziedonis und seine Freunde aus Lettland. Novuss ist Nationalsport in der fernen Heimat. Manchmal schaut Ron vorbei, er mag die Jungs und das Spiel, aber auch vor den neuen Freunden nimmt der Brite kein Blatt vor den Mund. "Sie haben uns regelrecht überschwemmt." Zu meinem Erstaunen pflichtet Ziedonis ihm bei. Und doch will er sich einsetzen für seine Landsleute. "Es ist doch nicht ihre Schuld, dass sie nur Arbeit für zwei Tage bekommen. Sie wollen arbeiten aber man lässt sie nicht. Sie werden ausgebeutet. Da sollte die Regierung ran."

Die Agenda der Rechtspopulisten

Endlich den Gangmastern den Kampf ansagen, den Leiharbeitsfirmen, die auf einen Job drei Arbeiter setzen und so auch den Staat um Steuern und Sozialabgaben prellen. Von allem dem erzählt Nigel Farage den Bostonern nichts. Er zündelt weiter. In der Schulaula und im Nadelstreifenzwirn malt er das Bild von den Sozialschmarotzern, die das britische Gesundheitssystem schamlos ausnutzten. "Wie kann es richtig sein, dass wir es uns nicht leisten können, einer 80-Jährigen Medikamente gegen Brustkrebs zu geben – aber bereit sind, Fremden, die nie in unser System eingezahlt haben, ihre HIV Erkrankung zu behandeln?"

Wenn die Fischer von Boston in See stechen, dann passieren sie ein vergilbtes Schild – "Boston, der Hafen nach Europa". Für die meisten von Ihnen ist es ein Fluch, für andere bleibt es Hoffnung.

Stand: 04.05.2015 16:06 Uhr

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