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Vagusnerv-Stimulation gegen Adipositas

Grafik zum Verlauf des Vagusnervs im menschlichen Körper.
Verläuft fast durch den ganzen Körper: der Vagusnerv (gelb).  | Bild: SWR

Der Vagusnerv ist einer der größten Nerven im menschlichen Körper und gilt als Schaltstelle zwischen Gehirn und einer Vielzahl von Organen. Er verläuft vom Hirnstamm im Kopf über den Hals und die Brust bis zum Bauchraum, unter anderem zum Herzen, zu Nieren, Leber, Milz und den Verdauungsorganen – und von dort wieder zurück zum Gehirn. Als wichtiger Teil des vegetativen Nervensystems reguliert der Vagusnerv Vorgänge im Körper, die unbewusst ablaufen. Wird er aktiviert, kann das dazu führen, dass sich zum Beispiel Atmung und Puls verlangsamen, der Blutdruck sinkt oder die Verdauung angeregt wird.

Erfolge mit gezielter Stimulation

Die Stimulation des Vagusnervs durch elektrische Impulse gehört schon seit einigen Jahrzehnten zum Therapie-Repertoire in Neuromedizin und Psychologie. Ein im Oberkörper der Patient*innen implantierter Impulsgeber sendet dabei über zwei Elektroden in regelmäßigen Abständen Stromimpulse – direkt in am Hals verlaufenden Stränge des Nervs. In Deutschland ist die Methode zur Behandlung therapieresistenter Epilepsien und Depressionen zugelassen, wird aber nur selten angewandt. Das Verfahren ist durch die notwendige Implantation aufwendig und das schreckt viele Patient*innen ab.

Klinische Studien zeigen jedoch, dass die Methode durchaus geeignet ist, Betroffenen Linderung zu verschaffen. Bei Epilepsie bekommt man etwa 5 bis 10 Prozent von ihnen anfallsfrei und bei etwa 50 Prozent der Patienten*innen kann mit der Vagusnerv-Stimulation die Zahl der Anfälle halbiert werden.
Auch bei Depressionen gibt es Therapieerfolge. Mehr als 30 Prozent der Betroffenen verzeichnen eine Linderung der Symptome, was in etwa vergleichbar ist mit der Erfolgsquote von Psychopharmaka.

Clip am Ohr statt OP

Probandin mit Elektrodenclip am Ohr
Alternative zum Implantat: ein Clip am Ohr.

An der Uniklinik Tübingen arbeitet man daran, das Verfahren in der Anwendung zu vereinfachen und die Anwendungsbereiche zu erweitern. Dazu haben die Forschenden eine Technik entwickelt, bei der weder Impulsgeber noch Elektroden im Körper der Patient*innen implantiert werden müssen. Das Verfahren macht sich zunutze, dass der Vagusnerv mit einigen Ausläufern auch durch das Ohr verläuft. Genau dort werden Elektroden platziert, die in einem kleinen Ohr-Clip stecken. Der Impulsgeber in Smartphone-Größe kann am Körper getragen werden.

Damit wird getestet, wie sich diese Form der Vagusnerv-Stimulation auf Menschen mit Depressionen auswirkt. Die Tübinger Neuropsycholog*innen prüfen aber auch, wie die Anwendung bei Essstörungen wirkt, etwa bei Adipositas oder Anorexie.

In einer ersten Studie hat das Tübinger Forschungsteam 2020 untersucht, welchen Einfluss die Vagusnerv-Stimulation grundsätzlich auf das Motivationsverhalten der Proband*innen hat. Metabolische Störungen wie Adipositas gehen häufig auch mit Störungen des Motivationsverhaltens und der Wahrnehmung von körpereigenen Signalen einher. Die Wissenschaftler*innen wollten unter anderem herausfinden, ob sich mit solche Störungen ausgleichen lassen. Die Ergebnisse der Studie haben gezeigt, dass sich die Stimulation tatsächlich signifikant positiv auf die Motivation der Teilnehmenden auswirkt.

Gute Perspektiven

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Die Vagusnerv-Stimulation könnte bei Diäten unterstützen. | Bild: SWR

Im Hinblick auf die Therapie von Essstörungen deuten die Ergebnisse zudem darauf hin, dass die Vagusnerv-Stimulation eine deutliche Verlangsamung der Schrittmacherzellen im Magen auslöst, was zu einer langsameren Verdauung führen kann. Aus Sicht der Forschenden ein Beleg dafür, dass man die Aktivität des Magens durch die Stimulation beeinflussen kann. Auf den Kaloriengrundumsatz hatte das Verfahren keine Auswirkung.

Die Ergebnisse zeigen, welches Potenzial in der Vagusnerv-Stimulation auch bei Adipositas-Therapien steckt, so das Tübinger Expertenteam. In der Zukunft ist es denkbar, mit so einem Stimulationsgerät körpereigene Signale "vorzutäuschen". Damit könnte man dem Gehirn trotz leerem Magen beispielsweise signalisieren, dass Nahrung vorhanden ist und so den Appetit zügeln. Gleichzeitig könnten damit auch Motivation und Stimmung verbessert werden, um bei Diäten das gefürchtete Kompensationsverhalten zu verhindern – auch als Jo-Jo-Effekt bekannt. Und so vielleicht drastische Eingriffe wie operative Magenverkleinerungen überflüssig machen.

Autor: Niels Waibel (SWR)

Stand: 23.04.2021 13:08 Uhr

Sendetermin

Sa., 24.04.21 | 16:00 Uhr
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