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Plastikmüllkippe Meer

Die Sandstrände der Nordseeinseln bieten vor Beginn der Urlaubssaison ein deprimierendes Bild: Große Plastikbottiche, Eimer, Flaschen, Folien, Fischernetze – wer den Strand abgeht findet statt Muscheln vor allem Kunststoffmüll.

Bevor die Touristen kommen, beseitigen Reinigungstrupps zwar den gröbsten Dreck – doch das Meer spült immer wieder neuen Müll an den Strand. Nach UN-Angaben gelangen weltweit jährlich 6,4 Millionen Tonnen Müll ins Meer. Und weil die Abfälle mittlerweile zu etwa 90 Prozent aus Plastik bestehen, verrotten sie kaum noch.

Tödliche Verwechslungen

Unter der Plastikmüll-Schwemme leiden die Meerestiere: Schildkröten verwechseln Tüten mit nahrhaften Quallen und gehen qualvoll an Darmverschluss zu Grunde. Meeresvögel halten rote Flaschenverschlüsse für Kleinkrebse und ersticken daran.

Jährlich spült die Nordsee zum Beispiel Tausende tote Eissturmvögel an die Küsten. Viele sind trotz vollen Magens verhungert. Eissturmvögel ernähren sich von so ziemlich allem, was schwimmt: Fische, Tintenfische, Zooplankton, Kadaver, Fischereiabfälle. Nicht wählerisch zu sein, das war lange Zeit eine erfolgreiche Überlebensstrategie für diese Vögel. Mit der Plastikmüllschwemme wurde aber daraus eine tödliche Gefahr. Die Tiere verwechseln Plastikmüll an der Wasseroberfläche mit Nahrung und fressen ihn.

Fliegende Müllbehälter

Anders als etwa Möwen würgen Eissturmvögel die unverdaulichen Teile ihrer Nahrung nicht wieder aus. Das macht sie zu unfreiwilligen Helfern der Meeresmüllforschung. Seit Anfang der 80er Jahre landen ihre Kadaver auf den Seziertischen niederländischer Wissenschaftler. Ihr Mageninhalt dient als Indikator für die Müllbelastung der Nordsee, denn die Vögel suchen ihre Nahrung fernab der Küste auf dem offenen Meer. Und dort schwimmt immer mehr Müll, der größtenteils von durchfahrenden Handelsschiffen stammt.

Seit 2002 beteiligen sich auch die anderen Nordseeanrainerstaaten an der Erhebung. Zwischen 2002 und 2004 untersuchten die Forscher 819 Eissturmvögel, davon 183 von der deutschen Nordseeküste. "Fast alle, also 93 Prozent, hatten Plastikmüll im Magen", sagt Nils Guse vom Forschungs- und Technologiezentrum Westküste in Büsum. Der Meeresbiologe fand durchschnittlich 29 Partikel pro Tier, hauptsächlich "Verbraucherplastik", wie etwa Schnüre, Verpackungsteile und Zahnbürsten.

Mit vollem Magen verhungert

"Die südöstliche Nordsee, also die Deutsche Bucht inklusive Niederlande, Belgien bis runter zur französischen Kanalküste ist am stärksten betroffen", sagt Guse, "dort finden wir in etwa im Schnitt 300 Milligramm Plastikmüll pro Eissturmvogel."

Hochgerechnet auf das Fassungsvermögen des menschlichen Magens entspricht das einer gut gefüllten Brotdose voll Plastik. Die streng geschützten Tiere sind regelrecht zu Mülleimern der Nordsee geworden. Einige hatten so viel Kunststoff gefressen, dass gar keine echte Nahrung mehr in ihren Magen passte.

"Je nachdem, welche Art von Plastikmüll das ist, kann das verschiedene Effekte auf das Tier haben", sagt Guse, "größere Stücke oder Folien können den Magen-Darm-Trakt verstopfen, so dass keine natürliche Nahrung mehr durchkommt. Scharfkantige Plastikfragmente können die Magenwand beschädigen." Auch wenn die Tiere nicht direkt am Müll zugrunde gehen: Ihre Fitness setzt er auf jeden Fall herab.

Globale Dimensionen

Plastikmüll ist nicht nur in der Nordsee ein Problem: Er sammelt sich auch weit abseits dicht befahrener Schifffahrtsstrassen. Der Greenpeace-Meeresbiologe Thilo Maack stieß selbst an den industriefernen Küsten Hawaiis auf riesige Müllmengen. "Man watet durch den Müll. Wir haben Kühlschränke, Fernseher, Hunderte von Plastikzahnbürsten, Feuerzeugen gesehen und eingesammelt und mitten drin liegen die verhungerten und verdursteten Albatrosküken."

Bei der Obduktion kamen Plastikteile zum Vorschein, mit denen sie von ihren Eltern gefüttert worden waren. In den Mägen erwachsener Albatrosse fanden Forscher Golfbälle, Feuerzeuge, ja sogar die Plastikgriffe von Schraubenziehern.

Pazifischer Müllteppich

Anders als in der Nordsee stammt im Pazifik der Großteil der Abfälle im Pazifik vom Land und wird über Flüsse in die Meere gespült. Mitten im Ozean treibt ein regelrechter Müllteppich – groß wie Zentraleuropa. Plastik ist langlebig. Es wird zwar im Laufe der Zeit porös und zerfällt in immer kleinere Teile. Die Probleme aber werden dadurch nicht kleiner: Im Oberflächenwasser des Pazifik fand die Algalita Marine Research Foundation (AMRF) sechsmal mehr Plastik als Plankton. Die winzigen Fragmente enthalten giftige Stoffe wie etwa Weichmacher, Antioxidantien und Farbstoffe. Zudem wirken sie wie "Giftschwämme": Wasserunlösliche, toxische Substanzen wie DDT oder PCB lagern sich an den treibenden Plastikmüll an.

Giftcocktail für Meerestiere und Menschen

Meerestiere, die dieses Plastik mit Nahrung verwechseln und fressen, speichern die Gifte in ihren Körpern. Besonders die kleinen Kunststoffteile bauen niedere Meerestiere in ihren Organismus ein. "Es ist noch unbekannt, was das für die niederen trophischen Ebenen bedeutet, für Plankton zum Beispiel", sagt Guse, "über die Nahrungskette gelangen die Gifte aber auch wieder in die größeren Tiere". Und damit letztlich zum Menschen.

Müll achtlos über Bord geschmissen

Der Großteil des Plastikmülls in der Nordsee stammt den Wissenschaftlern zufolge von Schiffen. So werde Plastikmüll häufig gemeinsam mit Essensresten in den Nahrungszerkleinern der Schiffsküchen zerhackt und dann über Bord gekippt, berichtet Guse. Natürlich ist das verboten. Schon im Jahr 2000 verabschiedete die EU eine Richtlinie zu Hafenauffang- Einrichtungen für Schiffsabfälle und Ladungsrückstände. Seitdem bieten alle Häfen eine Müllentsorgung an, für die es finanzielle Zuschüsse gibt. Doch noch immer kostet die Müllentsorgung in den Häfen Geld.

EU-Vorgaben wirkungslos

Der Erfolg der Maßnahmen hält sich denn auch in Grenzen: Im Zeitraum von 1982 bis 2004 fanden die holländischen Forscher keine signifikante Änderung in der Müllbelastung der Vögel. Nur die Zusammensetzung des Abfalls in den Mägen änderte sich: Während die durchschnittliche Belastung mit industriellem Plastik (Pellets) zurückging, nahm der Anteil von Verbraucherplastik zu.

Damit die Schiffsbesatzungen ihren Müll nicht weiter über Bord kippen, fordert Thilo Maack eine kostenfreie Entsorgung an Land und härtere Strafen für Müllsünder: "Man kann davon ausgehen, wenn ein großes Schiff über die Weltmeere fährt, das dann eine bestimmte Menge Müll anfallen muss. Und wenn diese Menge Müll nicht an Bord ist, dann ist der nächste Schluss relativ einfach, dass er irgendwo im Meer gelandet ist und dafür muss man Strafen zahlen."

Strände aus Plastik

Doch strenge Kontrollen sind im Zeitalter der Globalisierung nicht populär. Ohnehin dürften sie allein die Plastikmüllschwemme nicht stoppen. Die hat längst bizarre Folgen: So haben Forscher um Richard Thompson von der Universität Plymouth Sandproben von 18 Stränden an der britischen Küste und 25 weiteren Stränden weltweit untersucht. Das Ergebnis: Sie bestehen zu einem immer größeren Teil aus kleinsten Plastikteilchen. Nicht selten beträgt der künstliche Anteil bereits zehn Prozent.

"Das kriegt man nicht mit, weil es knirscht unter den Fußsohlen, und der Plastikmüll ist ja in so ganz kleine Fraktionen zerschlagen", sagt Maack, "aber wenn man genauer hinsieht, dann kann man erkennen, dass das keine Sandkörner sind, auf denen man sich bewegt, sondern Plastik“. Die düstere Prophezeiung der Forscher: Langfristig entstehen überall auf der Erde Strände aus kleinen Plastikkügelchen.

Autor: Güven Purtul

Stand: 07.06.2013 11:10 Uhr