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Island – Kampf der kalten Verwüstung

Was ist eine Wüste? Auf diese Frage antworten viele, dass es heiße Sandwüsten oder bitterkalte Eiswüsten gibt. Ergänzend wird hinzugefügt, dass in Wüsten nichts oder kaum etwas wächst, und das Wasser fehlt.

Beim Online-Lexikon "Wikipedia" heißt es: "Als Wüste bezeichnet man die vegetationslosen oder vegetationsarmen Gebiete der Erde. In Wüsten bedeckt die Vegetation weniger als 50 Prozent der Oberfläche. Ursache für Wüsten ist entweder fehlende Wärme (Kältewüste, Eiswüste) der subpolaren und subnivalen Regionen, oder Wassermangel (Trockenwüste, Hitzewüste)."

Es sind genau diese Definitionen, die die isländischen Wissenschaftler sauer machen. Seit circa 15 Jahren diskutieren sie mit den Kollegen vom Fach die Frage auf globaler Ebene: Was ist eine Wüste? Aus gutem Grund, denn nach Meinung der isländischen Wissenschaftler gibt es in Island riesige Wüsten, sogar die größten in Europa. Aber niemand erkennt sie bisher an.

Dabei sind die Argumente absolut stichhaltig: Ein Großteil der Inseloberfläche ist vegetationslos. Kaum Pflanzenvielfalt, nur ein Prozent Baumbewuchs, kilometerlang kein Grashalm - ein klares Indiz für eine Wüste, sollte man meinen. Doch Island leidet weder unter Wassermangel, noch an extremen Temperaturen. Es regnet zehn Tage pro Monat und die Temperaturen liegen circa fünf bis zehn Grad unter den deutschen Werten.

Der Boden ist der Schlüssel zur Wüste

Die isländischen Wissenschaftler stellen in der Diskussion immer wieder eine wichtige Frage: Wieso wächst in Island nichts, wo es doch genug Wasser gibt? Flüsse und Seen prägen die Landschaft.

Prof. Dr. Ólafur Arnalds, Bodenspezialist der Agrarwissenschaftlichen Hochschule Islands meint: "Für uns Isländer sind Wüsten ein wichtiges Thema, denn wir haben Wüsten, aber auch genügend Regen. Noch immer assoziieren Menschen mit Wüsten Hitze und Trockenheit. Dabei ist die entscheidende Frage: Was passiert eigentlich mit dem Wasser, wenn es auf den Boden kommt. Wird es dort gespeichert und an Pflanzen weitergegeben? Und wachsen auf dem Boden überhaupt verschiedene Pflanzen? Es ist also keine Frage des Klimas, sondern des Bodens."

Deshalb möchten die isländischen Experten eine Neudefinition des Begriffs Wüste bewirken. Und in der Tat scheint sich etwas im globalen Diskurs zu bewegen, denn in der Mongolei beispielsweise gibt es ähnliche vegetationslose Wüsten, ohne dass sie international anerkannt sind. Die Mongolen unterstützen die Isländer in der Diskussion.

Wieso könnte der Boden die Ursache sein?
Prof. Arnalds erklärt: "Das Erdreich besteht aus mehreren Schichten. Außer der mittleren Erdschicht, die vor allem als Wasserspeicher dient, gibt es die obere Schicht, die die Nährstoffe trägt. Sie ist voll mit Leben. Die obere Schicht sorgt dafür, dass das gespeicherte Wasser an die Pflanzen abgegeben wird. Fehlt dieser obere Teil, nützt das ganze Wasser nichts. Es kann nichts mehr wachsen. Deshalb muss Erderosion unter allen Umständen verhindert werden. Die obere Schicht darf unter keinen Umständen verloren gehen."

Hauptproblem: Erosion

Aber genau die Erosion ist der Hauptgrund für die vegetationslose Landschaft auf Island. Die Zerstörung des Bodens vollzieht sich in langsamen Etappen. Eines der Probleme sind frei weidende Schafe und Pferde auf der Insel, insgesamt knapp 600.000. Sie reißen die geschlossene Vegetationsdecke zuerst auf. Wind und Wasser finden erste Angriffspunkte im angeschlagenen Grün. Der ständige Wind untergräbt Pflanzen und Sträucher. Unablässig bläst er Sandkorn für Sandkorn fort. Der Prozess dauert Jahrzehnte. Langsam wird die fruchtbare Schicht abgetragen. Was bleibt ist unfruchtbare, tote Erde.

Das Problem ist im Kern menschengemacht. Die Wikinger holzten vor 1.000 Jahren die wenigen Bäume Islands ab. Gab es ursprünglich rund ein Drittel Waldbedeckung, so ist es heute noch knapp ein Prozent! Die Vorfahren brachten die Schafe mit und ließen sie frei weiden. Das ist bis heute ein Grundrecht auf Island. Die Schafe sind geländegängig und überall zu finden. Jeder neu sprießende Keim fällt ihnen zum Opfer. Ökologen und Agrarwissenschaftler kämpfen deshalb für Zäune, ein schwieriges Unterfangen.

Dr. Andres Arnalds, Agrarwissenschaftler des Soil Conservation Services: "Auf einem Land in gutem Zustand wächst gleichmäßige Vegetation. Das Weiden schadet nicht, es kann sogar nützlich sein. Aber man muss es planen und managen. Schafe kann man nicht einfach grasen lassen. Schnell sind grüne Flächen dann überweidet. Und sobald das Land geschädigt ist, zum Beispiel durch Überweidung, wird das Grasen zum entscheidenden Problem. Es schadet dem Land und begünstigt die Erosion. Vor allem verhindert es, dass sich der Boden erholt. Wenn die neuen Pflänzchen immer wieder abgefressen werden, wächst irgendwann auf dem Boden einfach nichts mehr."

Die schwierige Fruchtbarmachung der Wüste

Seit über 100 Jahren sind überall in Island Bemühungen im Gange, den fruchtlosen Boden zu düngen. Viel braucht es dazu nicht. Einfaches Heu eignet sich hervorragend als Pflanzennahrung. Wenn auch noch die Tiere fern gehalten werden, sind schon nach einem Jahr neue Pflänzchen zu beobachten. Kritischer ist der schwarze Lavaboden. Er braucht mehr, um fruchtbar zu werden. Traktoren bringen eine Kombination aus Samen des "gewöhnlichen Strandroggens" und Dünger direkt in die Erde ein. Die Erfolge sind klein, aber sichtbar. Nach sechs Jahren zeigt sich auf dem ehemals toten Boden eine grüne Fläche. Die Erde verwandelt sich langsam wieder in ein funktionierendes Ökosystem. Fast eine halbe Million Euro kostet die Rückgewinnung eines Hektars.

Wiederbelebung des Bodens wird belohnt

An Bauern, die sich aktiv an der Wiederbelebung beteiligen, werden Preise von halbstaatlichen Organisationen wie "Soil Conservation Service" vergeben. Einer der Preisträger war Kristian Gislason. Der Farmer lag jahrelang mit den staatlichen Fachleuten im Krieg. Er sah nicht ein, warum er seine Schafe nicht überall weiden lassen sollte. Erst als das Grünzeug um seinen Hof selbst für die eigenen Tiere nicht mehr ausreichte, machte er sich Gedanken. Schließlich überzeugten ihn die Experten. Über ein Viertel der Farmer machen bei der Landrückgewinnung mittlerweile mit. Sie kümmern sich um über 6.000 Hektar Land. Die mühselige Überzeugungsarbeit bei der Bevölkerung ist erfolgreich. Kristian Gislason erzählt: "Genau kann ich nicht sagen, wie groß meine wieder bepflanzte Landfläche ist. Aber es sind schon 80 bis 100 Hektar. Es ist ein wunderbares Gefühl zu sehen, wie auf so vielen unterschiedlichen Landschaften wieder etwas wächst und alles grünt."

Seit über 100 Jahren koordiniert die Zentrale des "Soil Conservation Service" die Neubepflanzung. Über sechs Millionen Dollar gibt SCS jedes Jahr für die Wiederbelebung der Erde aus. Die Methoden haben sich im Laufe der Zeit wenig geändert. Es ist hauptsächlich Handarbeit.

Isländische Jugendliche verdienen sich während der Sommerferien Geld mit Arbeiten für die Landrückgewinnung. Dabei soll ihnen auch bewusst werden, wie mühsam und langwierig es ist, zerstörtes Land wieder fruchtbar zu machen.

Experimentierfeld Island

Für die Wissenschaftler hat der Staat großflächige Experimentierfelder ausgelobt. In Island ist ein weltweit einzigartiges Freiluftlabor entstanden. In jahrelanger Kleinarbeit untersuchen die Forscher das Zusammenspiel von Boden, Nährstoffen, Wasser und Pflanzen. Sie vermessen jeden Quadratmeter und notieren die einzelnen Grashalme. Sie wollen wissen, wie das Wachstum bestimmter Pflanzen in welchen Böden mit welchem Nährstoff zu steigern ist.

Denn das Zusammenspiel der drei Komponenten Nährstoff, Wasser und Pflanze ist extrem kompliziert. So ändert sich zum Beispiel das Sickerverhalten des Wassers auf unterschiedlich bearbeiteten Böden im Laufe der Zeit und variiert je nach Bewuchs. Das deutet darauf hin, dass auch die Bodenqualität Schwankungen unterliegt. Denn bei einem schlechten Boden versickert das Wasser schnell oder auch gar nicht. Prof. Arnalds: "Eine Wüste ist immer trocken, auch wenn es genug regnet. Vor allem dann, wenn keine Vegetation da ist. Das Wasser versickert einfach. Aber die Erde hier ist nass und mit Nährstoffen angereichert, seit wir sie bepflanzt haben. Sie hat Eigenschaften einer richtigen Erde. Sie nimmt Wasser auf und gibt es an die Pflanzen ab. Wir wollen nun genau wissen, wie das funktioniert. Und wie wir den Prozess beschleunigen und unterstützen können."

Kaum eine Nation hat sich dem Kampf gegen die Wüste bisher so intensiv gewidmet, wie die Isländer. Sie wollen helfen, Wüstenbildung zu vermeiden. Sie selbst haben gute Chancen, ihre Wüste zu besiegen. Sie sind erstens aktiv und zweitens ist der viele Regen eine echte Gnade. Island wird wieder grün werden, auch wenn es noch viele Jahrzehnte dauert.

Autor: Ingo Herbst

Stand: 06.11.2015 09:05 Uhr

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