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Orcas – die schlauen Jäger

Orcas gehören zu den intelligentesten Walarten. Die zu Unrecht oft als “Killerwale” bezeichneten Meeressäuger zeigen Verhaltensweisen, die Forscher immer wieder überraschen. Zu den führenden Orca-Experten der Welt gehört die Neuseeländerin Dr. Ingrid Visser.

Die Meeresbiologin ist ständig mit dem Boot an Neuseelands Küsten unterwegs, um Orcas zu beobachten. Etwa 200 Tiere leben hier. Ingrid Visser hat sie fast alle fotografiert und gefilmt: Einzelne Individuen erkennt sie an der Form ihrer Rückenflosse.

Wale mit Namen

Frau an Bootskante und streckt Hand ins Wasser, Orca schwimmt darauf zu
Jeder Wal trägt einen Namen: Ingrid Visser mit Miracle | Bild: BR

Jeder Wal bekommt einen Namen. Der Orca Ben ist einer ihrer ältesten Freunde. Sie hat ihm mal das Leben gerettet, als er gestrandet war. Das hat er ihr nicht vergessen. Ben erkennt ihren Bootsmotor und kommt zutraulich heran, um Ingrids Stimme zu hören.

Orcas sind soziale Wesen und treten immer in Gruppen auf. Weltweit gibt es geschätzte 200.000 Exemplare. Sie bevorzugen küstennahe Gewässer und sind durch menschliche Aktivitäten, wie zum Beispiel die Schifffahrt, stark gefährdet.

Tauchgang

Ingrid macht sich fertig zum Tauchen. Sie will mit den Orcas schwimmen und sie dabei filmen. Sie gleitet mit der Kamera ins Wasser. Die großen Tiere scheinen keine Scheu vor ihr zu haben. Die Schwertwale aus der Familie der Delfine können bis zu neun Tonnen schwer und acht Meter lang werden. Mühelos gleiten sie durchs Wasser, und Ingrid muss sich anstrengen, um mit ihnen mitzuhalten.

Auswertungen an Land

Nach einem langen Tag auf dem Meer kehrt Ingrid zu ihrem Haus zurück, um die Ergebnisse ihres Ausflugs auszuwerten. Hier laufen die Fäden ihres Forschungsprojektes zusammen. Alle von ihr beobachteten Orcas sind mit Steckbriefen in einer Datenbank gespeichert. Mittlerweile hat sie 170 Individuen identifiziert und katalogisiert. Ingrid füttert ihre Datenbank mit Beobachtungen, Fotos und Videos. "Ich habe eine wissenschaftliche Beziehung zu ihnen, sie sind ein Forschungsobjekt", erklärt Ingrid Visser, "und dann habe ich eine sehr persönliche Beziehung zu ihnen. Aber es ist auch eine Art Liebesbeziehung, mehr als eine Leidenschaft, ich bin besessen von ihnen. Schau dir das bloß an."

Vergleichsbeobachtungen an anderen Küsten

Mehrmals im Jahr geht Ingrid auf Reisen, um das Verhalten von Orcas an anderen Küsten zu studieren. Eine Robbenkolonie an einem Strand in Patagonien zum Beispiel ist für Orcas wie eine offene Pralinenschachtel: unwiderstehlich! Es dauert nicht lange bis ein Wal zuschlägt und sich die Beute vom Strand holt. Mindern derartige Szenen Ingrids Zuneigung zu den Tieren?

"Klar, sie sind Killer", meint die Forscherin, "sie töten sogar Haie und Delphine. Aber sie töten nur um zu fressen. Sie sind gefährliche Fressmaschinen. Sie haben große Zähne und die greifen ineinander wie ein Reißverschluss. Aber obwohl sie Fleischfresser sind, gibt es keinen Nachweis, dass sie jemals Menschen angegriffen haben. Zumindest nicht in freier Wildbahn."

Gemeinschaftliche Unterrichtsstunden

Einmal im Jahr wird Ingrid als Meeresbiologin auf eine Kreuzfahrt durch die Antarktis eingeladen. Sie hält dort naturkundliche Vorträge. Zur faszinierenden Landschaft und Tierwelt der Antarktis gehören natürlich auch Orcas. Die, die hier heimisch sind, haben ihre ganz eigenen Merkmale und Verhaltensmuster. Auf einer ihrer letzten Kreuzfahrten in der Antarktis gelingen Ingrid einmalige Videoaufnahmen:

Robbe auf einer Eisscholle, umrinhgt von Orcas
Orcas auf Robbenjagd | Bild: BR

"Damit die Orcas die Robbe fassen können, müssen sie das Eis aufbrechen. Sie machen deshalb eine Welle um die Eisscholle zu kippen, kleine Stücke brechen dabei ab, aber noch nicht genug", beschreibt Ingrid die Lehrstunde für junge Orcas.

"Es ist eine wirklich erstaunliche Koordinationsleistung, die jahrelanges Training erfordert. Ein Orca bleibt zurück und hält die Eisscholle in Position, die anderen schwimmen davon und hier kommen sie zurück, vier auf einmal, machen eine große Welle und spülen die Robbe von der Scholle", kommentiert die Wissenschaftlerin ihre Aufnahmen, "dann schnappen sie die Robbe und ziehen sie unter Wasser. Pass auf, hier auf der linken Seite kommt die Robbe wieder hoch, im Maul eines Orcas. Er hebt sie aus dem Wasser und man denkt, das war das Ende der Robbe. Aber falsch gedacht: am Ende schubsen sie die Robbe auf eine andere Eisscholle zurück und das ganze Spiel beginnt von neuem. Denn es ist eine Trainingstunde für junge Orcas."

Hohe Intelligenz

Für eine Verhaltensforscherin wie Ingrid ist das Sozialverhalten der Orcas besonders interessant, denn es setzt eine hohe Intelligenz voraus: ''Alles was mit ihnen zu tun hat ist so beeindruckend: ihre Kultur, ihre Nahrungssuche, ihre Sozialstruktur, wo sie leben, ihre Jagdmethoden - alles ist so unglaublich. Du stellst eine Frage, findest eine Antwort und die führt zu hundert neuen Fragen."

Ingrid wird die Arbeit jedenfalls nicht ausgehen. Im weltweiten Netzwerk der Orca-Forscher spinnt sie die Fäden, um ein besseres Verständnis für diese faszinierenden Meeressäuger zu erreichen.

Autor: Ulli Weissbach
Bearbeitung: Sebastian M. Krämer

Literatur

Sachbuch:
Swimming wirh ORCA

Autor:Dr. Ingrid N. Visser
Verlag: Penguin Books, NZ 2005,
ISBN-Nr. 0-14301983-X

Fachzeitschrift:
Dressed to kill

Artikel von Ingrid N. Visser
in: New Zealand Geographic (Magazin),
Nr. 78 March/April 2006, ISSN: 0113-9967.

Stand: 22.01.2015 10:00 Uhr

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