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Das Staudamm-Projekt in Anatolien

Birecik-Staudamm
Einer von 22 geplanten Staudämmen | Bild: NDR

Mit einem Mega-Staudammprojekt hat die Türkei Teile Südostanatoliens in eine riesige Baustelle verwandelt. Das Ziel: Die beiden mythischen Flüsse Euphrat und Tigris sollen durch insgesamt 22 Dämme gestaut werden. Mit dem Stauwasser soll rund ein Fünftel der gesamten Anbaufläche der Türkei bewässert werden. Die Wasserkraftwerke an den Staudämmen sollen einst 22 Prozent des gesamten türkischen Strombedarfs erzeugen. Inzwischen wurden neun Staudämme fertiggestellt und sind in Betrieb, dreizehn weitere sollen folgen.

Gewinner...

Grüne Felder
Grüne Felder so weit das Auge reicht | Bild: NDR

Das Kerngebiet der Anbaufläche, das bewässert werden soll, bestand am Anfang aus 50.000 Hektar Land nahe der syrischen Grenze. Das Wasser des Euphrat wurde durch Kilometer lange Kanäle in die Ebene von Harran geleitet. Die Bewässerung war anfangs ein Erfolg: Bis vor fünfzehn Jahren war die südanatolische Ebene eine Halbwüste. Heute zählt die Region zu den wichtigsten Ackerbaugebieten der Türkei.

Ein Traum scheint wahr geworden zu sein, zumindest für den Landwirt Osman Güllüoglu, der zu den Großgrundbesitzern in der Region zählt. Früher hätten seine 700 Hektar Land gerade mal zwei LKW-Ladungen Getreide abgeworfen. Heute könne er die gleiche Menge auf nur 100 Hektar erwirtschaften und darüber hinaus noch Mais und Baumwolle anbauen, so Güllüoglu.

... und Verlierer

Schematische Darstellung der Versalzung
Kapillarkräfte ziehen das salzhaltige Wasser nach oben | Bild: NDR

Doch das viele Wasser bereitet anderen Bauern in der Harran-Ebene zunehmend Probleme: Die hohen Ernteerträge der ersten Jahre gingen inzwischen rapide zurück, eine Salzschicht bedeckt heute ihre Felder. Inzwischen sind fast 15 Prozent der Ebene für den Ackerbau unbrauchbar.
Grund ist übermäßige Bewässerung mit ungeeigneten Techniken und falsche Düngung. Besonders in Gegenden mit wasserundurchlässigen Bodenschichten in der Tiefe stieg der Grundwasserspiegel immer weiter an. Das Flusswasser enthält ohnehin mehr gelöste Salze als natürliches Regenwasser. Zusätzlich löste es Salze aus dem Erdreich und transportierte sie in die oberen Schichten. Von dort ziehen Kapillarkräfte das salzhaltige Wasser in winzigen Kanälchen weiter an die Erdoberfläche, wo es in der sengenden Sonne Anatoliens verdunstet. Zurück bleibt das Salz, das im Laufe der Zeit eine weißliche Schicht auf den Äckern bildet.

Versalzung – Ein vorhersehbares Problem

Salzkruste auf der Erdoberfläche
Viele Flächen sind mittlerweile mit einer Salzkruste bedeckt | Bild: NDR

Die Folgen falscher Bewässerung in Wüstenregionen sind lange bekannt. Die türkische Regierung hat wenig getan, um diese zu verhindern. Viele Bauern leiteten das plötzlich im Überfluss vorhandene Wasser über kleine Kanäle einfach auf ihre Felder. Dabei ist längst bekannt, dass die sogenannte Tröpfchen-Bewässerung nicht nur wassersparender ist, sondern auch die Probleme mit steigendem Grundwasserspiegel minimiert. "Um die Versalzung in der Harran-Ebene zu stoppen, muss der türkische Staat dringend ein breit angelegtes System aufbauen, um die Düngung und die Bewässerung in der Landwirtschaft zu kontrollieren", so die Landwirtschafsingenieurin Berivan Gökoglu. "Wenn nicht bald Gegenmaßnahmen ergriffen werden, dann wird in der Harran-Ebene kein Samen mehr keimen."

Flutung der archäologischen Stätten

Zeugma
Archäologen versuchen in Zeugma antike Schätze zu bergen | Bild: NDR

Das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris war einst eine Wiege der Kultur. Das Gebiet ist reich an historischen Spuren und niemand weiß genau, welche Schätze der Boden noch birgt. Doch immer mehr bedeutende Monumente und viele noch weitgehend unerforschte archäologische Stätten werden nach und nach vom Wasser überflutet.

Der Birecik-Staudamm am Fluss Euphrat wurde vor zehn Jahren fertig. Es überflutete nicht nur zwölf Dörfer und eine Kleinstadt, sondern auch eine wertvolle archäologische Stätte aus der Römerzeit: Zeugma. Mit Baggern und Spitzhacken - für Ausgrabungen eher unübliche Instrumente - versuchten Archäologen die antiken Schätze noch rechtzeitig zu bergen. Doch vermutlich blieb vieles aus Zeitnot unentdeckt und verschwand für immer im Stausee.

Hasankeyf, Juwel in Gefahr

Hasankeyf vor der Flutung
Hasankeyf vor der Flutung | Bild: NDR

Das Schicksal von Zeugma droht nun auch der Stadt Hasankeyf am Fluss Tigris. Hier soll der größte Staudamm des Projekts, der Ilisu entstehen. Der Stausee wird Hasankeyf und 52 Dörfer vollständig überfluten. Hasankeyf war jahrhundertelang eine Hochburg der assyrischen, römischen, abassidischen und kurdischen Kultur. Seit zehntausend Jahren leben hier Menschen. Es ist die einzige Stadt Anatoliens, die vollständig aus dem Mittelalter erhalten ist, und zeichnet sich durch ihre einzigartige Bauweise aus. Die Verzierungen an Moscheewänden, Minaretten und Kuppeln sind die besterhaltenen ihrer Art.

Kampf gegen den Untergang

Hasankeyf nach der Flutung
Hasankeyf ist nach der Flutung Vergangenheit | Bild: NDR

Nicht nur deshalb kämpfen die Bewohner von Hasankeyf mit der Rechtsanwältin Vecdet Dikan seit Jahren gegen den Bau des Ilisu-Staudamms. Die türkische Regierung will mit seinem Wasser wirtschaftliche Perspektiven in die Region bringen und so die Landflucht eindämmen. Dafür sollen die Bewohner von Hasankeyf und der umliegenden Dörfer zwangsumgesiedelt werden. Ungeachtet aller Proteste legte Ministerpräsident Erdogan vor drei Jahren feierlich den Grundstein für den Staudamm. Finanzielle Unterstützung war von Deutschland, Österreich und der Schweiz zugesagt.

Auf dem Trockenen

Hasankeyf heute
Hasankeyf soll erhalten bleiben | Bild: NDR

Dikan und ihre Mitstreiter haben inzwischen erreicht, dass Deutschland sich aus dem Ilisu-Projekt zurückzog. Doch die türkische Regierung ist fest entschlossen mit dem Bau auf eigene Faust fort zu fahren. Um das zu verhindern, wurden mehrere Verfahren gegen die Regierung initiiert. Wenn sie vor türkischen Gerichten den Baustopp nicht erreichen können, so Dikan, werden sie sich zwangsläufig an den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden müssen. Auch prominente Künstler wie Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Yasar Kemal oder Regisseur Fatih Akin setzen sich für den Erhalt der historischen Stadt ein: Der bekannteste Popsänger der Türkei, Tarkan, eröffnete hier ein Büro eines Umweltverbands, der für den Erhalt der Stadt kämpft.

Autor: Halil Gülbeyaz (NDR)

Stand: 18.06.2014 14:38 Uhr

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