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Der Rachefeldzug

George W. Bush
Der damalige US-Präsident George W. Bush | Bild: BR

"Wir werden diejenigen finden, die das getan haben! Wir werden sie in ihren Löchern ausräuchern, und ihnen Beine machen! Und wir werden sie einer gerechten Strafe zuführen!" Zwei Tage nachdem die Türme des World Trade Centers zusammengebrochen waren, schickte der amerikanische Präsident Bush diese Botschaft an seine Landsleute und die Welt - und brachte damit das vielleicht größte Bedürfnis der Amerikaner auf den Punkt: den Wunsch nach Rache.

Er ist das Leitmotiv unzähliger Geschichten der Weltliteratur, von Medea bis zum Grafen von Monte Christo, und auch im Alten Testament heißt es "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Doch trotz der Allgegenwärtigkeit des Rachemotives und der enormen Macht, mit der der Wunsch nach Rache von uns Besitz nehmen kann, fand sie in der Wissenschaft lange wenig Beachtung. Jüngere psychologische Forschungen belegen, dass Rache weit mehr ist als nur eine archaische Strafaktion.

Wie du mir, so ich dir

Ein Mann denkt nach
Beim Gefangenendilemma steht der Befragte vor der Wahl, seinen Komplizen zu verraten | Bild: BR

Brauchen wir in unserem modernen, hochentwickelten sozialen System überhaupt noch solche Vergeltungsmechanismen? Ober sollte man einfach immer alles verzeihen? Die Antwort liefert ein in der Wissenschaft altbekanntes Experiment: das "Gefangenendilemma". Zwei tatverdächtige Räuber, die zusammen ein Ding gedreht haben, werden verhaftet, und getrennt verhört. Sie stehen vor der Wahl: Verrate ich den anderen und verschaffe mir dadurch eine mildere Strafe? Das klappt aber nur, wenn der andere nicht auspackt... Oder sage ich nichts und vertraue darauf, dass der andere ebenfalls nichts verrät? Dann kämen beide mit einer geringen Strafe davon. Verrät der eine den anderen aber doch und kommt es zu einem zweiten Verhör, kann der Verratene wiederum zurückschlagen, indem er ebenfalls etwas Belastendes auspackt. Die statistische Auswertung vieler Durchläufe dieses Spiels zeigt: Wer sich grundsätzlich kooperativ mit seinem Partner verhält, aber nicht scheut, einen Verrat mit Gegenverrat zu rächen, steht meistens am Ende am besten da. Ganz nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir. Die Furcht vor Vergeltung treibt Menschen in die Kooperation und spielt also eine wichtige Rolle in unserem sozialen Zusammenleben.

Wut - der Gegenspieler der Angst

Thomas Elbert
Thomas Elbert erforscht, wozu die Rache gut ist. | Bild: BR

Rache ist nicht nur für die Stabilität einer sozialen Gemeinschaft von Bedeutung, sondern auch für die individuelle Psyche. Studien der Universität Konstanz belegen, dass viele Menschen, die über längere Zeiträume extremen Haftbedingungen oder sogar Folter ausgesetzt waren, nur durch den Gedanken, sich eines Tages an ihren Peinigern zu rächen, überlebt haben. "Wenn sie Opfer einer Straftat oder Verletzung in irgendeiner Form geworden sind, dann haben sie verschiedene Möglichkeiten, zu Handeln. Die eine ist, sie verfallen in eine Depression und Bitterkeit, die andere ist: In ihnen steigt Ärger hoch. Wut ist der Gegenspieler der Angst", so Professor Thomas Elbert, Ordinarius für Klinische Psychologie und Neuropsychologie an der Universität Konstanz. Und eben diese Wut, mit der sich ein Edmont Dantès, der Graf von Monte Christo, Schlag für Schlag seinen Weg durch die Gefängnismauern in die Freiheit bahnt, kann uns zu überlebensfähigen und zielstrebigen Menschen machen.

Rache - nichts weiter als eine Identitätsreparatur?

Ein Mann drängelt sich an der Kasse vor
Ein Vordrängler an der Kasse ruft heftige Reaktionen hervor. | Bild: BR

Rachegedanken sind bei der Bewältigung von Krisensituationen also durchaus hilfreich. Steht aber im Fall des Rachefeldzuges der Amerikaner der Aufwand der Jagd nach Osama bin Laden überhaupt noch in einem Verhältnis zu dem angerichteten Schaden? Allein auf Seiten der Koalition wurden beim "Krieg gegen den Terror" mehr als doppelt so viele Soldaten getötet, wie Menschen bei den Anschlägen am 11. September ums Leben gekommen sind. Einige Forscher sind der Ansicht: Das Bedürfnis nach Rache entspringt nicht dem Wunsch, einen erlittenen Schaden auszugleichen. Sie entsteht aus Empörung darüber, dass uns der Gegner offensichtlich verachtet.

Ein Beispiel: Ein Autofahrer, der trotz vorsichtiger Fahrweise auf eisglatter Fahrbahn einen Unfall verursacht und uns dabei vielleicht sogar schwere Verletzungen zufügt, weckt normalerweise kaum Rachegedanken.

Doch, viel banaler - der freche Vordrängler an der Supermarktkasse kann schnell die heftigsten und wütendsten Reaktionen auslösen. Der Wunsch nach Rache erwacht demnach nicht zwangsläufig nach einem Schaden auf unsere Person - sondern erst nach einem Angriff auf unsere identitätsstiftenden Werte, auf unsere Ordnung. Es ist daher kaum verwunderlich, weshalb die Anschläge des 11.Septembers einen kollektiven Wunsch nach Rache auslösten. Sie waren eine Verletzung der amerikanischen Identität.

Eine Frage des Glaubens

Das Bundesverfassungsgericht
Eigentlich das Bedürfnis aller: Es soll in der Welt gerecht zugehen. | Bild: SWR

Warum können sich Rachegedanken so tief und dauerhaft in uns festsetzen? Dieses Phänomen erklären Wissenschaftler mit einem tief in der Psyche verankertem Bedürfnis, den Glauben an eine gerechte Welt aufrecht zu erhalten - durch eine ausgeglichene Schuld- und Sühnebilanz.

Diese Bilanz wird unbewusst ständig erstellt, sowohl für uns selbst, als auch für Welt, in der wir leben. Gerät diese Bilanz ins Ungleichgewicht, sind wir unglücklich, und suchen nach Wegen, sie wieder ins Lot zu bringen: Entweder durch den Glauben an die Bestrafung durch eine höhere Macht, oder durch Taten. Gelingt dieser Ausgleich nicht, kann uns die Suche die Gerechtigkeit ein ganzes Leben lang beschäftigen.

Ist Rache wirklich süß?

US-Präsident Barack Obama
US-Präsident Barack Obama | Bild: BR

Das Ausüben von Rache kann uns durchaus kurzfristig eine Befriedigung verschaffen. Doch Professor Elbert von der Universität Konstanz kommt in seinen Forschungen zu einem erstaunlichen Ergebnis: "Leute, die in der Folter Jahre oder Monate schlimmste Dinge erlebt haben, und dann theoretisch die Möglichkeit haben, diesen Folterknecht selber zu misshandeln, wollen das letztlich gar nicht."

Amerika hatte sich für einen anderen Weg entschieden. Nach zehn Jahren Jagd auf den Anführer von al Quaida und nach Feldzügen im Irak und Afghanistan konnten die Anschläge vom 11. September „gesühnt“ werden. Anfang Mai 2011 verkündete Präsident Obama: "Heute kann ich ihnen mitteilen, dass die Vereinigten Staaten eine Operation durchgeführt haben, bei der Osama bin Laden, der Führer von Al Quaida, getötet wurde."

Autort: Frank Bäumer (BR)

Stand: 03.11.2015 09:48 Uhr

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