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Die Natur nach dem Gau

Ein Reh guckt aus dem Fenster eines unbewohnten Hauses
Die Stadt Prypjat hat neue Bewohner | Bild: SWR

Aus einem verwitterten Fensterrahmen reckt ein Reh seinen Kopf nach draußen auf die leere Straße. Eine Kohlmeise hat sich ein besonders geschütztes Plätzchen gesucht, um ihre Jungen groß zu ziehen: Sie hat sich ihr Nest in einer alten, verrosteten Propangasflasche gebaut. Die steht in einer verlassenen Wohnung. Es ist wieder Leben nach Prypjat zurückgekehrt. 50.000 Einwohner hatte die Stadt im Osten der Ukraine, bis 1986 der Reaktor im drei Kilometer entfernten Tschernobyl explodierte – und die Stadt zumindest für Menschen unbewohnbar machte. An ihrer Stelle haben sich inzwischen Tiere eingenistet.

Auch in den Wäldern rund um Tschernobyl kreucht und fleucht es wieder überall. Direkt nach dem Super-GAU im Atomkraftwerk starben Millionen von Tieren und Pflanzen – doch die Natur ist zurück.

Tiere können der Strahlung nicht ausweichen

Ein Mann guckt in einer saftigen Wiese durch ein Fernglas
Der Biologe Sergei Gaschak will wissen, wie intakt die Natur um Tschernobyl wirklich ist | Bild: SWR

Wie kann es sein, dass die Natur trotz der Radioaktivität so vital wirkt? Macht dem Ökosystem die Strahlung nichts aus? Diese Frage stellt sich der ukrainische Biologe Sergei Gaschak. Er macht sich mit seinem Laborbus auf den Weg in die gesperrte Zone. Rein darf er nur mit einer Sondergenehmigung. Sich hier aufzuhalten, ist nicht ungefährlich. Denn auch wenn die Strahlung nur noch drei Prozent des Wertes von 1986 beträgt, ist sie doch noch 1.000 Mal höher als in der Umgebung. An einzelnen Stellen sogar noch höher. Deshalb hat Sergei Gaschak immer seinen Geigerzähler dabei. Der zeigt ihm an, wenn er sich in Gebieten aufhält, die zu stark verseucht sind.

Die Tiere, die sich hier wieder angesiedelt haben, sind der Strahlung nicht nur äußerlich ausgesetzt, sie nehmen sie auch mit der Nahrung auf. Denn in jedem Grashalm steckt zum Beispiel radioaktives Cäsium. Seit dem Super-GAU haben es die Pflanzen rund um Tschernobyl im wahrsten Sinne des Wortes in sich. Und so reichert sich die Radioaktivität dann auch in den Tieren an. Das zeigt sich zum Beispiel, als Sergei Gaschak die Strahlung im Skelett einer toten Hirschkuh misst. Es strahlt zehn Mal mehr als der Boden. Ob sie daran gestorben ist, lässt sich allerdings nicht mehr feststellen.

Mäuse – unempfindlich gegenüber der Strahlung

Eine Maus beißt sich in einem Handschuh fest
Eine Gelbhalsmaus – trotz Strahlung ist sie putzmunter und beißt sich fest | Bild: SWR

Der Biologe Sergei Gaschak will nicht nur tote Tiere untersuchen, sondern herausfinden, wie sich die Radioaktivität auf das Leben auswirkt. Dafür hat er Fallen aufgestellt – er will Mäuse fangen. "Hier haben wir ein Gelbhalsmaus-Männchen. Das Tier lebt in einem stark radioaktiv verseuchten Gebiet. Doch offensichtlich befindet es sich in einem guten Zustand. Es ist sehr lebhaft und kräftig. Ich kann es spüren – es ist bereit zu kämpfen. Es beißt um sich und versucht sich zu verteidigen."

Er nimmt die Maus mit in seinen Laborbus. Hier kann er messen, wie hoch die Radioaktivität im Körper der Maus ist. Das Ergebnis: Sie ist stark verstrahlt. Das stellt Sergei Gaschak vor ein Rätsel: "Verblüffend, dass sie hier leben und sich fortpflanzen können – und dabei völlig gesund aussehen!" Wie das sein kann, möchte der Wissenschaftler zusammen mit einem internationalen Forscherteam klären.

Schwalben haben mit der Strahlung Probleme

Schwalben leiden unter der Strahlung: ein Zwergenei und ungleich lange Schwanzfedern
Schwalben leiden unter der Strahlung: ein Zwergenei und ungleich lange Schwanzfedern | Bild: SWR

Nicht alle Tiere sind so unempfindlich gegenüber der Strahlung wie die Mäuse. Amerikanische Ornithologen untersuchen auf einem alten Bauernhof in der Sperrzone Schwalben. Sie beobachten: Die Schwalben haben Tumore an den Füßen und Augen. Sie haben eine kürzere Lebenserwartung, weniger Nachwuchs. Auffällig auch die ungleich langen Schwanzfedern, die viele Schwalben haben. Die Folge: Probleme beim Fliegen.

Die Forscher sind verwundert über all diese Anomalien, obwohl Schwalben als Zugvögel ja nur einen Teil ihres Lebens hier verbringen und der Strahlung vergleichsweise kurz ausgesetzt sind! Und immer wieder entdeckt der Biologe Tim Mousseau neue Besonderheiten: "Heute haben wir ein Zwergenei gefunden, das nur ein Viertel so groß ist wie normal. Bei keiner anderen Population ist so etwas bisher beobachtet worden. Insgesamt haben wir in den letzten Jahren vielleicht 14 oder 15 verschiedene Anomalien gefunden, von denen zehn noch nirgendwo auf der Welt beobachtet wurden!"

Auf der einen Seite die unempfindlichen Mäuse, die allerdings dauerhaft in der verseuchten Region leben. Auf der anderen Seite die anfälligen Schwalben, die als Zugvögel der Strahlung nur verhältnismäßig kurz ausgesetzt sind. Wie passt das zusammen?

Gewöhnung an Radioaktivität – das Experiment

Weiße Labormäuse sitzen in Käfigen in einem Wald
Können sich Labormäuse im Wald von Tschernobyl an Strahlung gewöhnen? | Bild: SWR

Haben sich die Mäuse durch die Dauerbestrahlung vielleicht an die Radioaktivität gewöhnt? Eine mögliche Erklärung. Um das zu testen, setzt das Forscherteam um Sergei Gaschak im Wald von Tschernobyl einen Käfig mit weißen Labormäusen aus.

45 Tage lang sind die Tiere dort zum ersten Mal in ihrem Leben radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Eine Vergleichsgruppe von Mäusen verbringt die gleiche Zeit in einem nicht kontaminierten Gebiet. Die bestrahlten Mäuse krabbeln auf einem Boden, dessen Gammastrahlung das Tausendfache des Normalwerts beträgt. Aus Sicht der Biologen trotz allem eine vergleichsweise mäßige Dosis.

Nach sechs Wochen sind die Mäuse zurück im Labor. Hier werden beide Versuchsgruppen einer extrem hohen Strahlendosis unterzogen, die normalerweise eine gravierende Schädigung des Erbguts bewirkt – binnen Sekunden.
Das Ergebnis: Die an Strahlung gewöhnten Mäuse haben sehr viel weniger Schäden in ihrem Erbgut als die, die keine Chance zur Gewöhnung bekamen. Eine mögliche Erklärung also dafür, dass die immer wieder neu ins Gebiet einwandernden Zugvögel schlimmere Schäden haben als die Nager. Denn sie haben nicht die Chance, sich an die Strahlung zu gewöhnen.

Die Natur rund um Tschernobyl ist zurück. Dass sie sich komplett erholt hat, ist zu viel gesagt. Einige Arten arrangieren sich mit der Strahlung besser als andere. Warum, wissen die Wissenschaftler 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe nur ansatzweise. Sergei Gaschak wird mit seinem mobilen Labor immer wieder nach Tschernobyl kommen – auf der Suche nach Antworten.

Autoren: Antoine Bamas, Sarah Weiss (SWR)

Stand: 04.11.2015 12:03 Uhr

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