SENDETERMIN So., 15.04.12 | 17:00 Uhr | Das Erste

CSI Titanic: Spurensuche mit Physik

Verschwörungstheorien gegen Fakten

Am 15. April 1912 um 2.20 Uhr versank die RMS Titanic in den eiskalten Fluten des Nordatlantik. Eine der wenigen unstrittigen Tatsachen, wenn es um das Schiffsunglück geht. Denn selbst ernannte Experten und Verschwörungs-Theoretiker präsentieren auch heute noch die unterschiedlichsten Behauptungen zu dem, was vor und während des Untergangs geschehen ist. "W wie Wissen" hat daher den Physiker und Titanic-Fan Metin Tolan darum gebeten, mit wissenschaftlichen Methoden zu klären, ob Konstrukteure und Brückenbesatzung der Titanic das Unglück hätten verhindern können.

Der Mythos vom unsinkbaren Schiff

Der Physiker Metin Tolan
Die Konstruktion der Titanic war nicht fehlerhaft. | Bild: NDR

Die Titanic sei unsinkbar, hieß es. Doch diese Behauptung stammte nicht, wie oft kolportiert, von den Konstrukteuren des Schiffs. Sie wurde von der damaligen Presse in die Welt gesetzt. Ein deutlicher Beleg für den unbedingten Glauben an technische Machbarkeit in jener Zeit. Vom technischen Standpunkt aus, so erläutert Metin Tolan, sei der Glaube an die Unsinkbarkeit durchaus nachvollziehbar: "Die Titanic galt deshalb als unsinkbar, weil sie durch 15 wasserdichte Schotten in 16 Abteilungen unterteilt wurde. Auch wenn zwei dieser Abteilungen voll laufen sollten, konnte sie noch problemlos weiter fahren, zum Beispiel bei einem größeren Unfall. Selbst bei vier voll gelaufenen Abteilungen hätte die Titanic sich noch über Wasser halten können. Unglücklicherweise wurden durch die Kollision mit dem Eisberg sechs Abteilungen geflutet." Kein Konstruktionsfehler also, sondern unglaubliches Pech.

War der Zusammenstoß vermeidbar?

Physiker Metin Tolan neben einer Formel
Auch menschliches Versagen war ein Grund für die Kollision mit dem Eisberg. | Bild: NDR

Kommandierender Brückenoffizier zur Zeit des Unfalls war William Murdoch, der erste Offizier des Schiffs. Und er gilt vielen immer noch als Hauptverantwortlicher für den Zusammenstoß, denn Murdochs erster Befehl bei Entdeckung des Eisbergs soll eine Vollbremsung gewesen sein. Doch war die wirklich verantwortlich für den Crash?
Tolan hält das für abwegig. "Der Erste Offizier hat ein so genanntes Porting-around-Manöver versucht. Das bestand darin, dass man zuerst nach links gelenkt hat. Klar wollte man um den Eisberg herum, aber schon relativ früh – man war noch nicht herum, schon musste man wieder nach rechts in Richtung des Eisbergs lenken, um auch das Heck vorbei zu ziehen. Das hat nur leider nicht funktioniert."

Aber könnte das nicht am Bremsmanöver gelegen haben? Denn bei langsamer Fahrt reagiert ein Schiff träger auf Lenkmanöver als bei voller Fahrt. Tolan verneint. "Der Befehl 'Volle Kraft zurück - von dem man nicht einmal sicher weiß, ob er überhaupt gegeben wurde - hätte überhaupt keinen Einfluss gehabt. Es dauert 30 Sekunden, bis sich eine Dampfmaschine ausschaltet, und ich sie in eine andere Richtung laufen lasse. Und 30 Sekunden hat es auch gedauert von der Entdeckung des Eisbergs bis man auf ihm eingeschlagen ist. Die Titanic hat einen Bremsweg von insgesamt etwa 800 Metern, wenn alles optimal läuft. Man hatte aber nur 300 Meter bis zum Eisberg."

(Formel zu Berechnung des Bremsweges siehe PDF-Datei rechts oben)

Die Anziehungskraft des Eises

Metin Tolan demonstriert den "Bernoulli-Effekt".
Metin Tolan demonstriert den so genannten "Bernoulli-Effekt". | Bild: NDR

Lange Zeit ging man davon aus, dass der Eisberg den Rumpf des Schiffs wie ein Dosenöffner aufschlitzte. Inzwischen weiß man, dass das nicht stimmt. Die Titanic erlitt nicht einen einzelnen, sondern sechs kleinere Risse. Für den Physiker nicht überraschend. "Dass die Titanic vom Eisberg aufgeschlitzt wurde, ist ein reiner Mythos. Es ist physikalisch unmöglich. Das härtere Material (Stahl) könnte allenfalls das weichere Material (Eis) aufschlitzen. Was stattdessen passierte: Die Titanic ist mehrfach gegen den Eisberg geprallt. Dafür war unter anderem der so genannte "Bernoulli-Effekt" verantwortlich. Vereinfacht gesagt, erzeugen Gase und Flüssigkeiten, wenn sie strömen, einen Unterdruck. Zwischen der Titanic und dem Eisberg ist also ein Sog entstanden, weil das Wasser zwischen ihnen sich bewegt hat. Und dieser Sog hat dafür gesorgt, dass die Titanic immer wieder zum Eisberg hin gezogen wurde."

Wie groß war das Leck?

Metin Tolan demonstriert das Toricelli-Prinzip.
Metin Tolan bestimmt die Einströmungsgeschwindigkeit des Wassers mit dem "Toricelli-Prinzip". | Bild: NDR

Die Folge dieser mehrfachen Kollision waren sechs kleine Schlitze in der rechten Bordwand. Doch wie klein waren sie genau? Auch das lässt sich durch physikalische und mathematische Überlegungen ermitteln.

Metin Tolan: "Um die Größe des Lecks zu bestimmen, muss ich drei Sachen kennen: Erstens die Anstiegsgeschwindigkeit des Wassers in der Titanic. Das waren zu Beginn sieben Millimeter in der Sekunde. Man weiß ebenfalls, dass ungefähr das erste Drittel der Titanic vollgelaufen ist. Das war eine Fläche von 1.800 Quadratmetern. Die dritte Sache, die man braucht, ist etwas komplizierter zu bestimmen - das ist nämlich die Einströmgeschwindigkeit des Wassers in die Titanic. Die bestimme ich mit dem "Torricelli-Prinzip": Das besagt, dass die Geschwindigkeit, mit der Wasser aus einem Behälter strömt, die gleiche Geschwindigkeit ist, mit der das Wasser von der Höhe des ursprünglichen Pegels bis zur Höhe des Ausflusses herunter gefallen wäre. Bei der Titanic befindet sich das Leck sieben Meter unter Wasser, und Wasser, das aus sieben Meter Höhe herunter fällt, hat eine Geschwindigkeit von 11,7 Metern pro Sekunde. Das ist die Einströmgeschwindigkeit des Wassers."

Wie groß war aber nun das Leck? Das Ergebnis ist verblüffend: "Aus diesen drei Zahlen lässt sich errechnen, dass das Leck in der Außenwand der Titanic ungefähr einen Quadratmeter groß war. Nur einen Quadratmeter! Das heißt, falls die Titanic ungefähr auf 30 Metern Länge beschädigt war – kann nur ein ganz kleiner Spalt mit einer Höhe von wenigen Zentimetern entstanden sein. Und das kann man auch leicht erklären: Die Titanic wurde durch den Eisberg eingedrückt. Die Nietverbindungen sind kaputt gegangen zwischen den Stahlplatten und es haben sich kleine Spalte gebildet, durch die das Wasser eindringen konnte."

Ein unmöglicher Ausweg

Metin Tolan mit einem Modell der Titanic.
Ein Frontalaufprall auf den Eisberg hätte das Sinken der Titanic möglicherweise verhindert. | Bild: NDR

Bleibt die Frage: Wenn auch der Zusammenstoß unvermeidbar war, hätte es trotzdem eine Möglichkeit gegeben, den Untergang zu verhindern?

"Ja", sagt Metin Tolan. "Indem die Titanic frontal in den Eisberg rein gefahren wäre. Dadurch wären nämlich nur die ersten zwei bis maximal drei Abteilungen zerstört worden. Das hätte die Titanic locker weggesteckt, sie wäre nicht gesunken und hätte sogar weiter fahren können. Allerdings hätte man dann wissentlich die zwei- oder dreihundert Menschen, die sich im Bug befunden haben, in den Tod geschickt. Das hätte natürlich niemand verantworten können, weil man nachträglich immer gefragt hätte: Wäre es nicht vielleicht doch möglich gewesen um den Eisberg herum zu fahren?"

Zur Person:

Metin Tolan ist Professor für Experimentelle Physik an der Technischen Universität Dortmund. Da Physik nicht nur sein Beruf, sondern auch seine Leidenschaft ist, verknüpft er sie seit Jahren mit weiteren seiner Interessensgebiete zu humoristisch-physikalischen Analysen, zum Beispiel über James Bond, Star Trek, Fußball oder - wie hier - die Titanic.

Literatur

Die im Film gezeigten Fakten und Berechnungen stammen aus:

Metin Tolan
Titanic - Mit Physik in den Untergang.
Piper Verlag, 2012

Autor: Thomas Wagner (NDR)

Stand: 05.08.2015 10:53 Uhr