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Archäologie entlang der Pipeline

Spurensuche mit Metalldetektor

Forscher stehen auf der Pipeline-Baustelle
Immer wieder stoßen die Forscher auf Metall. | Bild: NDR

Als am 4. April 2011 in Syke-Gessel, südlich von Bremen, der Metalldetektor von Jan Stammler piept, da ahnt noch niemand, auf welche archäologische Sensation er gestoßen ist. Der Grabungstechniker vermutet zunächst Reste einer Granate im Erdreich. Stammler gehört zu einem Team von Archäologen, die in ganz Norddeutschland entlang der künftigen Trasse der Nordeuropäischen Erdgasleitung (NEL) forschen. Bevor Bagger den Graben für die dicken Pipelinerohre ausheben, suchen Archäologen nach Überresten vergangener Zeiten. Es ist eines der größten Archäologieprojekte Europas.

Ein Goldschatz!

In der Erde liegt ein goldschimmernder Gegenstand
Eine goldene Gewandspange liegt in der Erde verborgen. | Bild: NDR

In Syke-Gessel graben sich die Archäologen mitten auf dem Acker vorsichtig in die Tiefe, bis sie auf zwei Bronzenadeln stoßen. Darunter kommt plötzlich eine goldene Gewandspange zum Vorschein. Die Forscher sind elektrisiert und beschließen, das den Fund umgebende Erdreich als Block auszugraben. Fieberhaft arbeiten sie bis spät abends an der Bergung des Fundes, um ihn vor illegalen Schatzsuchern zu sichern. Als sie den Erdblock später mit Röntgenstrahlen durchleuchten, stellen sie fest, dass sie es mit einem Jahrhundertfund zu tun haben.

Erdblock im Computertomographen

Forscher schauen auf das dreidimensionale Bild des Fundes
Um wie viele Objekte handelt es sich? | Bild: NDR

Doch auf dem zweidimensionalen Bild wird nicht klar, um wie viele Teile es sich handelt und wie genau sie im Erdreich angeordnet sind. Eine Computertomographie kann detailliertere Antworten auf diese Frage geben. Hierbei entsteht ein dreidimensionales Bild - Grundlage für ein exaktes Modell des Fundes, anhand dessen er kontrolliert frei gelegt werden kann. Die filigranen Objekte müssen behutsam aus der Erde gelöst werden: Viele sind aus dünnen, leicht biegsamen Drähten, die zudem ineinander verschlungen sind. Nach und nach bergen die Restauratoren 117 Spiralen, Ketten, Spangen und andere Objekte - allesamt aus Gold mit einem Gesamtgewicht von fast 1,8 Kilogramm.

Rockefeller des Altertums

Stücke des Goldschatzes
Wahrscheinlich war der Schatz nicht im Besitz eines Menschen. | Bild: NDR

"Derjenige, der das Gold vergraben hat, ist für damalige Verhältnisse so reich gewesen wie Rockefeller in den 20er-Jahren", sagt Bernd Rasink vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege. Doch warum der Goldschatz 3.400 Jahre in seinem Versteck blieb, wird sich kaum beantworten lassen. Dennoch öffnet er ein Fenster in die Vergangenheit: Während die Form der Stücke typisch norddeutsch ist, deutet ihr Dekor eher auf den Donauraum und die Gebrauchsspuren auf eine lange Umlaufzeit hin. Vermutlich ein alteuropäisches Beziehungsgeflecht.

Fernhandel in der Bronzezeit

Ein Stück des Goldschmucks wird untersucht
Ein Spurenelementfingerabdruck soll zeigen, woher das Gold stammt. | Bild: NDR

Die Menschen der Bronzezeit waren wohl noch über Europa hinaus vernetzt. Das legen die Untersuchungen am Institut für anorganische Chemie der Universität Hannover nahe. Robert Lehmann, ein Experte für die Analyse alter Metalle, nahm dort einen 'Spurenelementfingerabdruck' des Edelmetalls, der Rückschlüsse auf dessen Herkunft erlaubt. "Das Gold ist nicht europäischer Herkunft, sondern stammt höchstwahrscheinlich aus Zentralasien", sagt Lehmann. Offenbar gab es schon vor über 3.000 Jahren Handelsrouten über Tausende von Kilometer, auf denen so kostbare Stücke bis nach Europa gelangt sind. Nicht die einzige Sensation: Unter dem Mikroskop entdeckt Lehmann auf den Schmuckstücken winzige Werkzeugspuren, die Erstaunliches offenbaren: "Eigentlich gingen wir davon aus, dass die Drähte zu dieser Zeit alle gehämmert wurden, aber hier sehen wir eindeutige Ziehspuren", sagt Lehmann, "sodass wir schlussfolgern können, dass die Drähte gezogen wurden. Offenbar war die Werkzeugtechnik in der Bronzezeit fortgeschrittener als angenommen."

Steinzeitdame im Sandstein

Ein Goldring mit blauem Stein
Ein weiterer Fund der "Pipeline-Archäologen" | Bild: NDR

Noch sind nicht alle Goldstücke untersucht und der Goldschatz ist nur einer von vielen Funden entlang der Pipeline. Aus wissenschaftlicher Sicht ebenso spektakulär ist die bei Achim entdeckte "Venus von Bierden". Sie ist die älteste, je in Norddeutschland gefundene Frauendarstellung. Die Umrisse eines Frauenkörpers waren wohl circa 9.000 Jahre vor Christus, zum Ende der letzten Eiszeit, in einen fünf mal acht Zentimeter großen Sandstein geritzt worden. "Niemand hätte gedacht, dass es so etwas hier überhaupt gibt", sagt Rasink, "normalerweise kennen wir solche Funde nur aus dem Mittelgebirgsraum, aus Höhlen, wo sich so etwas hervorragend erhält, aber nicht hier im Flachland". Angesichts der intensiven Landwirtschaft ist es für die Forscher überraschend, dass derart viele Funde völlig unberührt unter dem Pflughorizont liegen. Nur einige Kilometer weiter haben die Archäologen einen goldenen Fingerring mit einer blauen Perle gefunden. Rasink schätzt sein Alter auf circa 1.600 Jahre.

Ein Querschnitt durch mehr als 10.000 Jahre Geschichte

Grabungen für die Pipeline
Die Grabungen gehen immer noch weiter. | Bild: NDR

Tausende Funde aus Hunderten Fundstellen müssen nun dokumentiert und untersucht werden - eine Mammutaufgabe für die Archäologie, mit der sich noch zahlreiche Doktorarbeiten beschäftigen werden. Siedlungsreste, Münzen, Gefäße, Werkzeuge, Schmuck und Gräber bilden einen Querschnitt durch mehr als 10.000 Jahre Geschichte. Noch gehen die Grabungen weiter. Auf einer Trassenbreite von bis zu 36 Metern wird der 'Mutterboden' abgezogen. "Alles, was in den gewachsenen Boden eingetieft ist, kann man als Archäologe erkennen und später auch deuten", sagt Rasink. Insgesamt tragen die Bagger auf einer Fläche von sieben Quadratkilometern Erdreich ab. Das Besondere an der Pipeline-Archäologie: Die Auswahl trafen nicht Archäologen, sondern Trassenplaner. "Wir finden Siedlungen an Stellen, wo wir sie nie vermutet hätten", so Rasink. Der Projektkoordinator freut sich über das genaue Bild der Siedlungstopographie in Norddeutschland. Vor allem die Anzahl der Siedlungsreste aus der Römerzeit hat ihn überrascht: "Es zeigt sich, dass zu der Zeit von Varus und Arminius unsere Landschaft nahezu so dicht besiedelt war wie im Mittelalter." Der spektakulärste Fall des Archäologieprojekts bleibt der Goldschatz von Gessel. Seinen ursprünglichen Besitzern scheint er kein Glück gebracht zu haben. Aber ihn 3.400 Jahre später zu finden, das ist ein sagenhafter Glücksfall!

Autor: Güven Purtul (NDR)

Stand: 13.11.2015 14:24 Uhr

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