Interview mit Raymond Ley

Raymond Ley
Raymond Ley | Bild: NDR / David Paprocki

»Das Dokudrama sollte nicht in der Nachstellung von Realität verharren«

Wie haben Sie die Vorfälle im September 2009 erlebt, als ein deutscher Oberst in Afghanistan die Bombardierung zweier Tanklaster befahl und bis zu 140 Menschen tötete?

Ich war erschüttert über die hohe Opferzahl und die getöteten Zivilisten, darunter viele Kinder. Ein blutiger deutscher Militäreinsatz. Dann fragte ich mich, sind wir auf dem Weg in einen neuen Krieg, der damals ja so noch nicht genannt werden durfte. Und: Gibt es ein Mandat für diesen Krieg?

Dachten Sie bereits daran, Kunduz könnte einen guten Filmstoff hergeben?

Ende 2009 war ich mit zwei Dokudramen, „Eichmanns Ende“ und „Die Kinder von Blankenese“, beschäftigt. Doch die Kunduz-Affäre ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Im September 2010 sprach ich mit Christian Granderath im NDR über den Stoff, der das Thema selbst schon auf dem Schirm hatte und unabhängig von mir einen Film über Oberst Klein plante. Christian Granderath holte mich ins Boot, machte es zu einem gemeinsamen Projekt. Und auch mein Produzent, Ulrich Lenze, mit dem ich schon einige Doku-Dramen realisiert hatte, sah Kunduz als „großes Thema“.

Wie gingen Sie beim Schreiben vor? Haben Sie erst die O-Töne eingeholt und auf diesem Fundament die fiktionale Geschichte entwickelt?

Beim Dokudrama müssen meine Frau Hannah und ich anders als bei einem reinen fiktionalen Stoff arbeiten – erst recherchieren und dokumentarisch entwickeln, dann fiktional auserzählen und zuspitzen. Ich habe erst mit Christian Granderath und Sabine Holtgreve vom NDR über den Aufbau der Geschichte gesprochen, dann mit Zeitzeugen geredet, nach deren Aussagen wir wiederum die fiktionale Handlung verändert haben. Die Karten wurden ständig neu gemischt. Als plötzlich der frühere Kommandeur der Nato-Allianz, Egon Ramms, bereit war, mit uns zu sprechen und sagte, die von den Taliban entführten Tanklaster bildeten in jener Nacht keine unmittelbare Bedrohung für die deutschen Soldaten, dann wackelt die Begründung des verantwortlichen Oberst Georg Klein. Also recherchierten wir die Motive dieses Mannes neu: Warum trifft Klein in jener Nacht diese verheerende Entscheidung, zwei Bomben über diesem Gebiet abwerfen zu lassen? Obwohl er ahnen konnte, dass sich dort auch eine große Zahl von Zivilisten befand.

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Wir fächern im Film eine ganze Reihe von Motiven auf. Zum einen forderte die Politik in Berlin wenige Wochen vor dem Bombardement eine härtere Gangart in Afghanistan. Dies war Thema in der deutschen Presse, nachdem in Kunduz deutsche Soldaten fielen. Diesen Erwartungsdruck spürte auch Klein. Seine Truppe, die sich lange nicht zur Wehr setzen durfte, wollte ebenfalls einen „militärischen Erfolg“ gegen die Taliban. Zudem waren die Interessenlagen in der Nacht des Bombardements nach NATO-Berichten höchst unterschiedlich: Oberst Klein wollte „lediglich“ die Tanklaster zerstören, während die geheime Task Force 47 im Lager darauf drängte, „die Passagiere“ an den Tanklastern auszuschalten. Klein sah sich außerdem als militärischer Führer – er wollte Entscheidungen treffen, ohne die übergeordnete Dienststelle vor Ort oder in Berlin einzuschalten.

Ein Disziplinarverfahren gegen Klein wurde dennoch nicht eingeleitet.

Uns liegen die Protokolle des Funkverkehrs vor – zwischen den angeforderten Air-Force-Piloten und dem Fliegerleitoffizier in Kunduz. Immer und immer wieder fragten die skeptischen Piloten, ob eine Bombardierung notwendig sei. Ob es wirklich eine Feindberührung gebe. Es sind dramatische Dialoge, am Ende können die Zuschauer nachvollziehen: Eine unmittelbare Bedrohung deutscher Soldaten gab es dort am Fluss nicht. Ich habe Achtung vor den US-Piloten – sie zeigen Gewissen – auch wenn sie am Ende die Bombe werfen.

Ihr Film weist dem afghanischen Gouverneur in Kunduz eine Mitschuld zu. Können Sie das belegen?

Wir vermuten, nach Gesprächen mit Mitgliedern des Untersuchungsausschusses „Kunduz“, dass Klein vom afghanischen Gouverneur womöglich instrumentalisiert worden ist. Der Mann wollte Rache nehmen an den Taliban für die Ermordung seines Bruders.

Frei erfunden ist der BND-Mann Henry Diepholz. Was bedeutet diese Figur?

Diepholz ist unser Mephisto. Der Tod. Alles, was diese fiktive Figur sagt und tut, dient dem einen Zweck, Oberst Klein in die Verantwortung zu bringen. Tatsächlich hätte es diesen Henry Diepholz geben können. Wir wissen, dass Leute des Bundesnachrichtendienstes in Kunduz waren – auch in der entscheidenden Nacht – und haben aus diesen Informationen diese Figur geschaffen, die Axel Milberg darstellt.

Verglichen mit anderen Dokudramen taucht der erste O-Ton erstaunlich spät auf.

Erst nach sieben Minuten. Galina Motz weint um ihren in Kunduz getöteten Sohn Sergej. Er war der erste deutsche Soldat seit Ende des Zweiten Weltkriegs, der in einem Feuergefecht sein Leben verlor. Vater Victor hatte für die Russen in Afghanistan gekämpft. Er hielt mir im Zimmer seines Sohnes dessen Uhr unter die Nase, das Glas war gebrochen – die Uhr roch nach Pulver. Wir verbrachten einen ganzen Tag mit der Familie Motz. Das hat mich tief berührt. Auch deshalb haben wir Sergejs Geschichte mehr Platz eingeräumt.

Ist der Spielfilmanteil in „Eine mörderische Entscheidung“ höher als in ihren früheren Dokudramen?

Wir haben die Fiktion gerade in der ersten Hälfte des Filmes „nach vorne“ gestellt: Das fremde Land, die Bedrohung der Soldaten. Wir zeigen das Gefecht, in dem Sergej stirbt, in einer dramatischen Kriegsfilmszene. Auch der Untersuchungsausschuss mit Oberst Klein ist aufwendig inszeniert und wird – wie auch das teilweise abgefilmte dokumentarische Material – Teil der Spielhandlung. Das alles verstärkt den erzählerischen Charakter des Films. Es war uns wichtig, dass der Film in einer bestimmten Größe „atmen“ kann und den Zuschauer berührt. Das Dokudrama sollte nicht in der Nachstellung von Realität verharren – es ist seit Fechner, Breloer und Königstein auch immer Interpretation.

Wie sind Sie mit der Figur Oberst Klein umgegangen?

Da Klein jedes Interview ablehnte, ist die Figur den Tatsachen nachempfunden und wie in einer fiktionalen Spielfilmhandlung geschrieben. Wir haben unseren Oberst Klein recherchiert und auch „erdacht“: Was fühlt er wann und wie – warum handelt er hier so und nicht anders.

Im Film sprengt sich ein Selbstmordattentäter in die Luft, er tötet im Namen Allahs. Was unterscheidet diesen Jungen vom gläubigen Oberst Klein?

Er ist ein Kind, rekrutiert und instrumentalisiert von den Taliban. Es ist für uns ein wichtiger Baustein, dass der Lagerpfarrer Klein rät, Gott um Vergebung zu bitten, falls er töten lassen muss. Klein nimmt den sogenannten menschlichen Kollateralschaden in Kauf. Das ist das Absurde am Völkerrecht: Wie viele Kinder darf ich töten, um so und so viele Taliban auszulöschen? Das ist eine Frage des Ermessens.

Warum haben Sie die Rolle des Oberst Klein mit Matthias Brandt besetzt? Einen Kommisskopf stellt man sich ganz anders vor.

Matthias Brandt spiegelt auf eine besondere Art und Weise das „Weiche“ an Oberst Klein, einen Freund klassischer Musik, der seinen Brahms und seinen Mozart auf dem iPod bei sich trägt. Und Brandt spielt glaubhaft das Unentschiedene und Beamtenhafte dieses Mannes, der den Krieg nur aus zweiter Hand von seinen Soldaten kennt. Die Selbstzweifel, die ihn plagen, bringt Matthias Brandt so außerordentlich gut rüber, dass ich manchmal befürchtete, er ist im Kern zu sympathisch für diese Rolle. Er schwitzt fast zu viel, er ringt zu viel mit sich. Ich kann nur hoffen, Klein ist es damals ähnlich ergangen. Das würde für ihn sprechen.

Mussten Sie Matthias Brandt etwa bremsen?

Erst im Schnitt. Wir mussten darauf achten, die moralische Kompetenz des Oberst Klein nicht zu überhöhen. Klein war der erste, der dort für uns erkennbar Krieg führte. Der es dem damaligen Verteidigungsminister zu Guttenberg erlaubte, das Wort Krieg öffentlich in den Mund zu nehmen. Dafür hat Klein den Schlüssel umgedreht. Im Untersuchungsausschuss sagt er später: Nicht, dass meine Gedanken nicht bei den getöteten Menschen gewesen wären, aber sie waren auch bei meinen verwundeten Soldaten. Er sagt nicht: Ich bedauere den Tod dieser Leute. Am Ende wirkt er eiskalt.

Wurden aus der Affäre politische Lehren gezogen?

Ich glaube vielmehr, dass die Büchse der Pandora geöffnet wurde. Die Bundeswehr als international operierende Truppe hat einen Schritt nach vorn getan – die Krisenherde der Welt sind das Ziel. Dass Oberst Klein nun zum General befördert wurde, ist in meinen Augen ein Skandal. Aber es zeigt auch, welchen Weg die Bundeswehr einschlagen will.

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