Edgar Selge im Interview

François

Hauptdarsteller Edgar Selge wird am Set für die nächste Szene hergerichtet.
Hauptdarsteller Edgar Selge wird am Set für die nächste Szene hergerichtet. | Bild: rbb/NFP / Manon Renier

Sie haben sich die Figur des François angeeignet. Wer ist dieser Mann für Sie, wie charakterisieren Sie ihn und welche Aspekte betonen Sie besonders?

Ich versuche gar nicht, eine Figur zu entwickeln und zu spielen, sondern ich verhalte mich zu dem vorliegenden Text. In diesem Text gibt es einen Erzähler, eine Hauptfigur und Gegenfiguren. Ich versuche, den Ton dieser ganzen Erzählung aufzunehmen. Ein Romanautor will ja mit seinem Leser kommunizieren. Er will verstanden werden. Diesen Mitteilungswillen spürt man auch in der Theaterfassung und im Drehbuch. Um den sehr speziellen Mitteilungsgestus bei Houellebecq aufzunehmen und weiterzugeben, ist es besser, sich nicht zu sehr eine Figur vorzustellen, sondern frei, offen zu bleiben und sich vom Text selber führen und verführen zu lassen.

Der Ich-Erzähler ist eine Mischung aus dem Autor Houellebecq und seiner erfundenen Figur François. Die Haupteigenschaften dieser "Figur" sind eine kompromisslose Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, ein Sprechen ohne Schere im Kopf, eine Lust an der Provokation, eine ständige Präsenz der eigenen sexuellen Träume, einer Sehnsucht nach Religion und dem Eingeständnis, in metaphysischen Dingen nicht "begabt" zu sein. Zu dieser "Figur" gehört außerdem die Akzeptanz der eigenen Einsamkeit und ein Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit, das ihn zur Verzweiflung treibt. Ebenso wie die Bereitschaft zum Opportunismus, um dieser Verzweiflung zu entgehen. Ich versuche, mich als Resonanzraum für diese erzählende Figur zur Verfügung zu stellen. Der wichtigste Aspekt ist für mich der Kontakt zum Zuschauer.

Literatur wird Theater wird Dokumentation und wird Film. Wie begleitet, wie steuert man (s)eine Figur durch deren erzählerische Transformationen?

Erstmal ist ein neuer Regisseur da, der Filmregisseur und Drehbuchautor Titus Selge, der einen privateren Blick auf diese Figur wirft als es die Theaterregisseurin Karin Beier und ich in der Bühnenversion wollten. Er steuert und transformiert jetzt die Figur François und für ihn habe ich versucht, eine neue Stufe der Glaubwürdigkeit zu erreichen. Dabei spielt die Wahrnehmung der anderen Schauspieler, die im Film jetzt hinzutreten, die Wahrnehmung ihrer Wirklichkeit und Präsenz, die wichtigste Rolle. Ich habe ja mit François, den ich über 60 mal auf der Bühne gespielt habe, den Kollegen gegenüber einen Vorsprung und konzentrierte mich deshalb darauf, ihnen gut zuzuhören und zuzuschauen. Ich schaute Matthias Brandt, Florian Stetter, André Jung, Bettina Stucky, Alina Levshin und allen anderen einfach zu. Mit großem Vergnügen.

Außerdem bin ich beim Drehen ein Teil des jeweiligen neuen Ortes. Paris! Die ganze Stadt vom Fenster aus gesehen! Den Place d’Italie. Quartier Latin mit der Universität. Meine Wohnung. Die überfallene Tankstelle mit den Toten. Ich musste diese Orte nicht mehr in der Phantasie entstehen lassen, wie auf der Bühne, sondern im Film bin ich Teil der realen Umgebung, die der Zuschauer so deutlich sieht wie ich. Ja, er sieht mich als Teil dieser Umgebung. Und dieses Zusammenwachsen des Drehortes mit der Situation und der eigenen Person ist ein eigener physischer Vorgang.

Das Theater lässt sich, anders als das deutsche Primetime-Fernsehen, als ein Schutzraum beschreiben. Empfinden Sie den TV-Film "Unterwerfung" als mutig?

Ich empfinde das als sehr mutig. Ich habe mitverfolgen können, welche Kämpfe zunächst der Produzent Clemens Schaeffer und der Drehbuchautor Titus Selge durchfechten mussten, um die Rechte der Verfilmung zu bekommen. Ich habe mitbekommen, welche Schwellen und Hemmnisse dieser Stoff in den Sendern durchlaufen musste. Meine Bewunderung für die Haltung der Entscheiderinnen im rbb, Martina Zöllner und Patricia Schlesinger, die an diesen Stoff geglaubt haben, ist sehr groß. Der Film hat eine für das Fernsehen ungewöhnliche Erzählstruktur. Die Geschichte ist im konventionellen Sinn handlungsarm und textlastig. Aber thematisch und ästhetisch ist dieser Film ein Gewinn in der deutschen Fernsehlandschaft. So frech, so leicht wird in deutschen TV-Filmen selten mit schwergewichtigen aktuellen Themen umgegangen. Es ist übrigens auch ein Film über Schauspielerei. Durch den ständigen Wechsel zwischen abstrakt-ironischer Bühnensituation und naturalistisch-psychologischen Filmszenen steht die Spielphantasie im Zentrum und nicht die Illusion, die Schauspieler seien mit ihren Figuren identisch. Das ist im Fernsehen außergewöhnlich und mutig. 

Halten Sie Houellebecq für einen Zyniker? Oder für einen großen Melancholiker?

Ich finde, dieser Autor ist vor allem ein Provokateur, der mit seinen eigenen und mit unseren Illusionen aufräumt. Dabei kann er schon zynisch sein. Aber auch die Trauer über verlorene Ideale ist spürbar, und das erzeugt Melancholie und Einsamkeit. Und diese Einsamkeit ist sehr attraktiv. Jeder Leser nimmt ein Buch zur Hand, weil er der eigenen Einsamkeit entkommen möchte. Bei Houellebecq findet der Leser einen Leidensgenossen, dem es definitiv schlechter geht als ihm selbst. Das baut auf.

Frankreich tickt etwas anders als Deutschland. U.a. hat der Islam dort eine ganz andere Stellung. Ist "Unterwerfung" daher nicht eher ein frivoles Spiel mit Szenarien, über die wir uns keine Sorge machen müssen, weil es bei uns keine Banlieues gibt, die regelmäßig brennen?

Unsere deutschen Banlieues sind brennende Asylantenheime. Pegidademonstrationen. Silvesternächte auf der Kölner Domplatte. NSU. Außerdem kann man sich fragen: Wie gut kennen wir eigentlich die Vororte unserer Großstädte?