Titus Selge im Interview

Drehbuchautor und Regisseur

Regisseur Titus Selge (re.) mit Regieassistentin Tatiana Merizalde Dobles (li.) am Set von „Unterwerfung“ in Paris.
Regisseur Titus Selge mit Regieassistentin Tatiana Merizalde Dobles am Set von „Unterwerfung“ in Paris. | Bild: rbb/NFP / Manon Renier

Dokumentation, Fiktion, Theater, Literatur – wie hält man als Regisseur ein derart vielschichtiges Projekt zusammen?

Auch dieser Film ist aus einer Vielzahl kleinster Entscheidungen entstanden und über einen besonders langen Zeitraum von mehreren Enden her zusammen gewachsen. Durch die Pausen zwischen den Drehblöcken konnten wir uns immer wieder leisten, den Schnitt etwas liegen zu lassen, und mit Abstand neu auf das Ganze schauen. Das ist ein Luxus, den man bei Fernsehfilmen normalerweise nicht hat. Und beim Drehen ging es um die richtige Mischung aus genauester Vorbereitung und der Flexibilität, auf überraschende Bedingungen zu reagieren. Wir wussten zum Beispiel, dass während der beiden Theatervorstellungen, die wir covern wollten, der G20-Gipfel in Hamburg stattfinden würde. Das haben wir zunächst nur als logistisches Problem gesehen. Wie sehr die unheimliche Stimmung in der Stadt sich mit dem Stoff der Unterwerfung verbindet, konnten wir erst vor Ort erkennen. Darum sind wir nach der Vorstellung spontan losgezogen und haben Bilder von den Auseinandersetzungen auf den Straßen gedreht. Am Ende sind einige dieser Momentaufnahmen auch im Film gelandet. Insgesamt bin ich aber selbst erstaunt, wie nahe der fertige Schnitt am ursprünglichen Drehbuch ist. Über zahlreiche Umwege ist die Ahnung von einem möglichen Film schließlich wieder bei sich selbst gelandet.

Haben Sie die Fallhöhe eines solch vielschichtigen Filmes als Glücksfall oder durchaus auch als Bedrohung empfunden?

Ich habe mich ziemlich genau zwei Jahre mit diesem Projekt beschäftigt und dabei keine Sekunde gelangweilt. Das hat bestimmt damit zu tun, dass ich als europäischer Mann mittleren Alters direkt von den Fragen der Hauptfigur betroffen bin. Aber natürlich spielt die Brisanz der politischen Themen, die seit der Veröffentlichung des Romans noch deutlich zugenommen hat, auch eine Rolle. Es war lange Zeit spannend, ob die einzelnen Puzzleteile sich irgendwann zu einem harmonischen Ganzen fügen würden. Denn natürlich kann ein ambitioniertes Projekt auch schief gehen. Aber ich habe diese Spannung als sehr bereichernd empfunden und ich musste sie auch nie ganz alleine ertragen. So war zum Beispiel mein Editor Knut Hake während der Monate im Schneideraum ein großartiger Freund und Partner.

Wie wichtig war das Vertrauen des Regisseurs in seinen Hauptdarsteller – und umgekehrt?

Ich habe vor der "Unterwerfung" noch nie mit meinem Onkel gearbeitet, obwohl ich ihn seit meinem fünften Lebensjahr als Schauspieler auf der Bühne und im Film verfolge und schätze. Aber auch wenn ich vor den Dreharbeiten durchaus mal darüber nachgedacht habe, am Set hat unsere Verwandtschaft keine Rolle gespielt. Wir haben einfach sehr intensiv an der Sache gearbeitet und weil uns das beiden im Blut liegt, hat es großen Spaß gemacht. Edgar liegt ja altersmäßig etwa in der Mitte zwischen meinem Vater, also seinem Bruder, und mir. Beim Drehen habe ich oft Seiten meines Vaters in Edgar entdeckt und das hat sich dann wirklich sehr vertraut angefühlt. Aber am Ende geht es immer um Genauigkeit. Stimmt das, was wir hier tun, für die Figur und für die Geschichte? Fragen Sie Edgar, aber ich denke, ein Schauspieler braucht Vertrauen, um entspannt und genau spielen zu können. Als Regisseur sollte man immer misstrauisch bleiben. Vor allem sich selbst gegenüber.

Als der Roman 2015 erschien – am Tag des islamistischen Anschlags auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo – gab es viel Kritik und Zustimmung. Was waren Ihre ersten Gedanken beim Lesen? Wie hat sich Ihr Verhältnis zum Stoff durch die Arbeit verändert?

Ich habe den Roman tatsächlich sofort nach seinem Erscheinen gelesen, einfach weil ich Houellebecq seit der "Ausweitung der Kampfzone" immer gelesen habe. Darum wusste ich, dass der Roman keineswegs von islamistischen Attentaten handelt. Trotzdem sitzt Houellebecq seit Jahren in der Schublade des Katastrophenpropheten. Und da kann er schreiben, was er will, da lassen ihn die Leute, von denen die allermeisten seine Bücher gar nicht wirklich lesen, nicht mehr raus. Ich fand es besonders schrecklich, dass er einen seiner Freunde bei dem Anschlag auf die Redaktion verloren hat, ausgerechnet als seine eigene Karikatur das Cover von Charlie Hebdo zierte.

Der Roman wurde ja vor der Anschlagserie in Europa geschrieben und beim Drehen in Paris haben wir bemerkt, wie sensibilisiert die Franzosen inzwischen sind. Wenn da ein Moped eine Fehlzündung an der Kreuzung hat, gehen die Leute sofort in Deckung. Insofern sind Teile des Romans durch die Wirklichkeit überholt worden. Das Grundthema, die Schlaffheit des westlichen Liberalismus, ist aber aktueller denn je.