Gespräch mit Ursula Strauss

Fühlt sich befreit: Judith (Ursula Strauss).
Fühlt sich befreit: Judith. | Bild: NDR / Sandra Hoever

Judith Lorenz ist eine sympathisch wirkende, lebhafte Frau mit einem gestörten Verhältnis zur Wahrheit. Wie sehen Sie die Figur? Was ist Judith für ein Mensch?

An der Oberfläche hat sie erst einmal etwas sehr Charmantes, und sie ist sehr schnell im Kopf; sie kann sich blitzschnell auf ihr Gegenüber einstellen. Doch sie verfügt nur über eine sehr begrenzte Empathie-Fähigkeit, weil Judith Lorenz nur um sich selbst kreist. Diese Frau ist wirklich ausschließlich bei sich. Das ist eine Krankheit. Sie hat eine maßlos übersteigerte Fantasie, kippt immer in irgendwelche Geschichten rein und baut sich ihr eigenes Universum daraus, das Lorenzsche Universum.

Könnte sie dann nicht auch nette Unwahrheiten erfinden?

Das kann sie nicht, weil sie sich ständig bedroht fühlt. Sie sieht sich als Opfer, die ganze Zeit. Das macht sie aber gar nicht absichtlich, sondern sie glaubt selbst auch, was sie erzählt. Sie ist eine extrem bipolare Persönlichkeit und hat eine verschobene Wahrnehmung.

Wer wäre Judith Lorenz denn ohne ihre Geschichten?

Ohne ihre Geschichten wäre sie wahrscheinlich ein unsicherer Mensch. Ich glaube, dass ihr ihre Geschichten eine gewisse Form von Halt geben. Sie ist eine sehr einsame Figur, die ständig versucht, irgendwo anzukommen und sich eine Heimat zu suchen. Sie findet sie aber nicht, weil sie hinter jeder Ecke eine Bedrohung wahrnimmt und es überall nur kurz aushält. Judith ist wie ein Parasit, der sich bei einem Wirt einnistet und sich eine Zeit lang von dessen Energie ernährt. Wenn sie ihn leergesogen hat, lässt sie ihn zurück und muss sich einen neuen Wirt suchen, der sie wieder nährt.

Judith wird freundlich aufgenommen von den neuen Kollegen. Nur Volker Lehmann fällt durch unpassendes Verhalten auf. Wie nimmt sie das anfangs wahr? Wie findet sie den?

Sie checkt relativ schnell, dass sie bei dem nicht ankommt. Außerdem ist er ihr zu übergriffig und sie findet es nicht gut, wie er mit den Kolleginnen umgeht. Deshalb springt sie in die Bresche und stellt sich ihm recht offensiv entgegen. Das ist erst einmal ein guter Zug an ihr. Aber das verselbständigt sich dann sehr schnell wieder, weil sie immer im Mittelpunkt stehen muss. Sie muss die Arme sein, die Probleme hat, um sie soll sich gekümmert werden. Und das macht sie so geschickt, dass man ihr das abkauft. Bei Volker merkt Judith aber, dass das keiner ist, der sich um sie kümmert. Er ist ja tatsächlich auch so was wie ein Täter. Es bleibt offen, wie weit er in diesem Aktenraum geht, aber er ist wirklich unangenehm; der wahrt die Grenzen nicht. Und dann beginnt bei Judith ein Film … Das finde ich so spannend an dem Buch, dass die Grenzen verschwimmen: Wer ist Täter? Wer ist das Opfer? Was ist eine Grenze, die gewahrt werden muss?

Welches Verhältnis hat Judith zu Andrea Bredow?

Sie spürt sofort, dass die andere quasi bereitsteht für sie. Andrea ist gerne die Helferin, insofern ist sie die ideale Person zum Andocken für Judith. Ohne Andrea würde das ganze System nicht funktionieren. Andrea ist bereitwillig zur Stelle, wenn Judith in Schwierigkeiten ist. Das ist ein System, das sich gegenseitig nährt.

Judith erzählt viel, aber in keiner Szene wirkt sie so überzeugend wie in der, wo sie von Volkers Übergriff berichtet. Wie kommt diese Dynamik zustande?

Zum einen liegt es sicher daran, dass sie selbst alles glaubt, was sie erzählt, und es dadurch im Erzählen intensiv empfindet. Zum anderen ist diese Sache eine Art Selbstläufer. Andrea wirkt in gewisser Weise daran mit. Wenn man genau hinhört, ist Andrea sogar diejenige, die es ausspricht. Judith braucht es gar nicht selbst zu tun. Sie beginnt nur, sie begibt sich auf die Reise, und dann schaukelt sich das durch die Energie von beiden Frauen allmählich hoch. Und wenn das Schiff einmal fährt, ist es nicht mehr aufzuhalten.

Judith lügt zwanghaft. Aber steht nicht auch Berechnung dahinter? Weiß sie nicht auch, dass ihre Behauptungen auf fruchtbaren Boden fallen?

Das spürt sie instinktiv. Sie spürt instinktiv, was sie mit ihren Lügen erreichen kann, und sie will natürlich das Beste für sich herausschlagen. Zudem kann Judith kein Mitgefühl für andere empfinden. Wenn man sein eigenes Universum ist und sich als Opfer inszeniert, muss natürlich jemand darunter leiden. Aber sie erzählt diese Geschichte nicht, um dem anderen gezielt zu schaden, sondern sie macht es, um sich selbst zu retten. Ihr Beweggrund beginnt bei sich und nicht bei dem anderen. Das Gegenüber ist ihr egal. Judith Lorenz hat kein moralisches Empfinden, was das Leid dieses Mannes und seiner Familie betrifft. Sie fühlt sich einfach im Recht.

Warum ist jemand so?

Darüber können Psychologen oder Ärzte sicher besser Auskunft geben. Ich weiß nur, dass es solche Menschen gibt. Gelegentlich trifft man ja Leute, bei deren Geschichten man irgendwann ins Stutzen kommt. Für eine Schauspielerin ist das beim Spielen durchaus ein lustvoller Vorgang, weil man ja weiß, dass es nur eine Geschichte ist, die man erzählt. In so ein wahnsinniges System reinzuschnuppern ist schon eine spannende Aufgabe. Aber Judith Lorenz ist an sich natürlich grauenvoll. Das ist eine brandgefährliche Frau, weil sie sehr genau weiß, wie sie an Menschen herankommt und wie sie sich Vertrauen erschleichen kann.

Nicht nur Andrea kauft ihre die Geschichte ab. Warum, glauben Sie, hat Judith so durchschlagenden Erfolg damit?

Die Leute lassen sich von der Judith-Lorenzschen-Wahrhaftigkeit überzeugen. Dadurch, dass sie selbst an die Geschichte glaubt, glauben die anderen ihr das auch. Und es ist nun mal so: Wenn einen jemand mit seinem Schmerz konfrontiert, stehen die Ohren und die Herzen schnell offen. Man glaubt dem anderen, weil man dessen Schmerz nicht erträgt und man ihn in dem Moment schützen möchte. Dass Judith auch bei Gericht zunächst damit durchkommt, hängt damit zusammen, dass Juristen eben auch nur Menschen sind. Jeder ist zu einem gewissen Grad beeinflussbar. Für Judith ist das alles eine große Show, die ihr wahnsinnig zusagt. Sie gefällt sich in der Rolle des Opfers, dem alle Aufmerksamkeit schenken.

Frauen wie Judith Lorenz sind auch für die vielen echten Opfer von Sexualstraftaten gefährlich. Wie sehen Sie diesen Aspekt Ihrer Rolle?

Natürlich ist es schlimm, wenn diese Menschen nicht zu ihrem Recht kommen. Und es ist schlimm, dass man als Frau überhaupt Übergriffigkeiten ausgesetzt ist. Damit macht ja praktisch jede Frau ihre Erfahrungen. Aber es wäre sehr schade, wenn man die Rolle der Judith so verstünde, dass hier versucht wird, die Glaubwürdigkeit von echten Opfern zu unterminieren. Hier geht es nicht so sehr um eine Vergewaltigung, sondern um die Krankheit dieser Frau und um die Gefährlichkeit von Empathielosigkeit. Es geht um Dinge, die geschehen können und so ja tatsächlich schon geschehen sind. Natürlich passiert es auch immer wieder, dass Männer Opfer von weiblicher Gewalt werden. Wir leben im 21. Jahrhundert, und ich finde, dass man das durchaus auch erzählen sollte. Der Film lädt dazu sein, sich darüber zu unterhalten, wie genau man sein Gegenüber anschaut, wie genau man überhaupt hinschaut im zwischenmenschlichen Bereich.

(Das Interview wurde geführt von Birgit Schmitz.)