Interview mit Aussage-Psychologe Prof. Dr. Günter Köhnken

Judith (Ursula Strauss) erzählt Martin (Godehard Giese) ihre traurige Geschichte.
Judith erzählt Martin ihre traurige Geschichte. | Bild: NDR / Christine Schroeder

Im Film tritt mit Judith Lorenz eine Figur auf, die viele falsche Geschichten erzählt. Wie ordnen Sie ihr Verhalten als Aussage-Psychologe ein?

Dieses Verhalten kann symptomatisch für eine sogenannte histrionische Persönlichkeitsstörung sein. Ein Hauptsymptom dieser Störung ist, dass die Betroffenen im Mittelpunkt stehen und die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen wollen. Manche färben sich die Haare lila oder ziehen schräge Klamotten an; andere erfinden Geschichten oder dramatisieren etwas, was zwar tatsächlich stattgefunden hat, aber nicht in einer so dramatischen Form. Das Phänomen des pathologischen Lügens wird in der Diagnostik abgegrenzt von Wahnvorstellungen. Wahnvorstellungen sind oft bizarr und basieren auf Fehlwahrnehmungen, also darauf, dass jemand Stimmen hört oder meint, irgendwo Figuren zu sehen. Zwanghafte Lügner wissen dagegen häufig durchaus, dass das, was sie erzählen, nicht richtig ist. Solche Geschichten können sich aber im Laufe der Zeit verselbständigen, was dazu führen kann, dass der Sprecher irgendwann selbst davon überzeugt ist, dass es tatsächlich so war.

Wie entwickelt sich so eine Störung?

Persönlichkeitsstörungen bilden sich typischerweise in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter aus und bleiben dann meistens auch bestehen. Man kann aber lernen, damit umzugehen, damit zu leben. Wenn jemand dramatisierte Geschichten erzählt und das plump macht, lernt er relativ bald, dass die Leute ihm nicht glauben und sich abwenden. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man hört damit auf und versucht, auf andere Weise Aufmerksamkeit zu erregen, oder aber man verfeinert seine Technik. Die Frau aus dem Film ist schätzungsweise Mitte dreißig und hat dann möglicherweise schon seit mehr als zehn Jahren diese Symptomatik. Also hat sie mehr als zehn Jahre lang geübt und gelernt, wie andere auf sie reagieren, wenn sie sich auf eine bestimmte Weise verhält. Deshalb kann sie auch sehr überzeugend auftreten und andere davon überzeugen, dass es tatsächlich so war, wie sie es erzählt.

Sind die Ursachen einer solchen Störung bekannt?

Eigentlich nicht. Es ist extrem schwierig, so etwas empirisch zu untersuchen. Es wird häufig der Fehler gemacht, dass man Leute mit derartigen Störungen dazu befragt, was in ihrer Kindheit gewesen ist, und dann erzählen sie irgendwas. Dieses Irgendwas mag symptomatisch sein für die Persönlichkeitsstörung, die sie haben, aber es ist kein Beleg dafür, dass es tatsächlich die Ursache war. Es gibt also keine verlässlichen Daten dazu.

Gibt es heute häufiger falsche Vergewaltigungsvorwürfe als früher?

Das kann ich aus meiner Praxis nicht bestätigen. Ich komme als Gutachter ja nur dann zum Einsatz, wenn Staatsanwaltschaft oder Gericht vorher schon ein Problem gesehen haben. Das heißt, dass ich es per se mit einem höheren Anteil an problematischen Angaben zu tun habe. Die unproblematischen Fälle landen gar nicht erst bei mir. Das muss man immer mitbedenken. Zudem hängt die Häufigkeit der bekannt gewordenen Fälle natürlich auch stark vom Anzeigeverhalten der potenziellen Opfer ab. In den letzten zwanzig, dreißig Jahren haben sich zunehmend mehr Organisationen herausgebildet, die Opfer von Sexualdelikten unterstützen, zum Beispiel bei der Suche nach einem Anwalt oder als Prozessbegleitung. Das kann dazu geführt haben, dass insgesamt mehr Fälle zur Anzeige gebracht werden als früher. Und wenn das zuträfe, könnte nur die Zahl der bekannt gewordenen Fälle gestiegen sein, ohne dass es insgesamt mehr Fälle gegeben hat. Dies ist aber nur eine Hypothese, für die ich keine empirischen Belege habe. Ich finde es trotzdem wichtig, dass dieses Thema mal behandelt wird. Einfach weil man mit der Möglichkeit rechnen muss, dass es auch in solchen Bereichen aus ganz unterschiedlichen Gründen zu falschen Beschuldigungen kommen kann. Dieses Problem ist nicht allen bewusst. Es gibt teilweise die Auffassung, dass, wenn jemand so etwas erzählt, es auf jeden Fall wahr sein muss, und wer das bestreitet, wird schnell als chauvinistisch oder sexistisch abgestempelt.

Nehmen wir an, Sie begutachten eine Frau wie Judith Lorenz aus dem Film. Wie gehen Sie vor?

Es gibt diagnostische Instrumente, mit denen man zunächst einmal überprüfen kann, ob bestimmte Formen von Persönlichkeitsstörungen vorliegen. Dann kann man in der Untersuchung gezielt dazu befragen und mögliche Auswirkungen der Störung auf das Aussageverhalten prüfen.

Auch eine krankhafte Lügnerin kann ja tatsächlich Opfer einer Gewalttat geworden sein ...

Ja, natürlich. Ihre Aussagen würden genauso analysiert wie die jedes anderen Menschen, den man zu begutachten hat. Den Methoden der Aussageanalyse liegt die Annahme zugrunde, dass Dinge, die man tatsächlich erlebt hat, stabiler, prägnanter, detailreicher im Gedächtnis verankert sind als etwas, was man sich nur ausgedacht hat. Nur der, der etwas tatsächlich erlebt hat, kann so darüber reden, wie man über ein echtes Erlebnis spricht. Wer sich etwas nur ausgedacht hat, kann das nicht. Der Begründer dieser aussagepsychologischen Methode, Professor Udo Undeutsch, hat mal gesagt, das ist so, wie wenn ein Blinder über Farbe redet. Die Fantasiegeschichten eines Histrionikers können durch den Lerneffekt, den ich oben beschrieben habe, natürlich detailreicher sein als etwas, was sich jemand einfach mal so ad hoc ausgedacht hat. Das kommt vor. Man muss schon sehr genau fragen und gucken, wie das erzählt wird, und es analysieren und mit Aussagen vergleichen, die vorher gemacht worden sind. Bei pathologischen Lügnern ist die Überprüfung schwerer als bei Gelegenheitslügnern, die sich schneller verheddern oder wo man eher merkt, da sind Lücken und das passt nicht zusammen.

Könnten Sie das Verfahren noch etwas konkreter beschreiben?

Es gibt bestimmte inhaltliche Merkmale, nach denen man eine Aussage absucht. Diese Merkmale werden schon seit Jahrzehnten angewendet und sind auch empirisch untersucht. Nehmen wir zum Beispiel Komplikationsschilderungen. Damit ist gemeint, dass ein Geschehensablauf geschildert wird, der unterbrochen oder sogar ganz abgebrochen werden muss, weil irgendeine Störung eintritt. So etwas finden Sie ganz selten in ausgedachten Aussagen. Auch ein pathologischer Lügner kommt nicht so schnell darauf, so etwas in seine Aussage bewusst mit hinein zu konstruieren. Wenn man als Gutachter eingesetzt wird, ist vorher praktisch immer schon eine polizeiliche Vernehmung durchgeführt worden, über die es in aller Regel ein Wortprotokoll oder sogar eine Videoaufzeichnung gibt. So kann man das, was in der Vernehmung gesagt wurde, mit dem vergleichen, was einem als Gutachter über das fragliche Geschehen erzählt wird. Wenn im Kernbereich der Aussage gravierende Abweichungen auftreten, fängt man an, misstrauisch zu werden.

Wer bestellt denn üblicherweise solche Gutachter?

Der Normalfall ist, dass die Staatsanwaltschaft während des Ermittlungsverfahrens, also noch bevor die Sache zum Gericht geht, ein Gutachten einholt, wenn sie den Eindruck hat, dass etwas problematisch sein könnte. Unser Auftraggeber ist praktisch immer die Staatsanwaltschaft oder das Gericht. Was damit zu tun hat, dass so eine Begutachtung freiwillig ist.

Man kann sich dem also auch verweigern?

Ja, das ist immer völlig freiwillig. Wenn die zu untersuchende Person einer Begutachtung nicht zustimmt, kann es aber sein, dass der Gutachter vom Gericht in die Hauptverhandlung geladen wird, um an der Beweisaufnahme teilzunehmen und die betreffende Person zu befragen. Die Person ist dann ja als Zeugin anwesend, und als Zeugin im Gericht ist sie normalerweise verpflichtet, Fragen zu beantworten, auch Fragen, die ich ihr stelle.

(Das Interview wurde geführt von Birgit Schmitz.)