Gespräch mit Prof. Dr. med. Andreas Marneros

Professor Dr. Andreas Marneros
Professor Dr. Andreas Marneros | Bild: NDR

Sie haben in Ihrer Laufbahn unzählige psychologische Gutachten für Gerichte erstellt. Können Sie sich beim Anschauen von Krimis noch in eine normale Zuschauerhaltung fallen lassen oder arbeitet das Expertengehirn auch bei fiktiven Verbrechen unermüdlich weiter?

Bei Krimis mit einem psychologischen Hintergrund gibt es natürlich einen gewissen Gewöhnungseffekt. Ich begutachte solche Leute seit über 30 Jahren; da kann ich mich hin und wieder nicht davon freimachen, dass ich denke: Das kann nicht den Tatsachen entsprechen. Oder im Gegenteil: gut getroffen! Das gibt es auch.

Wie sah das denn bei "Familiensache" aus? Hat Ihnen der Film gefallen?

Der Film hat mich positiv überrascht, denn der Regisseur hat die wichtigsten psychologischen Zusammenhänge sehr gut getroffen. Ich habe mir den Film zusammen mit zwei anderen Psychiatern angesehen, die sich ebenfalls mit Forensik beschäftigen, und sie waren derselben Meinung.

Arne Kreuz ist ein Familienvater, der finanziell scheitert und seine Familie mit in den Tod nehmen will. Wie beurteilen Sie diese Figur und ihre Motive?

Im Film "Familiensache" sehen wir eindeutig die Handlung eines Täters mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Für Arne Kreuz ist die Familie so etwas wie eine Trophäe; dieses Wort wird im Film selbst auch benutzt. Er schmückt sich mit der Frau und den Kindern. Dann erfährt er einen Lebensbankrott; er hat Schulden, bekommt keinen Kredit mehr bei der Bank und so weiter. Das passt nicht zu dem Bild, das er von sich selbst hat; er erträgt es nicht, ein Bankrotteur zu sein, ein Versager. Die Entscheidung, sich zu töten, hat damit zu tun, dass er mit dieser Kränkung nicht leben kann.

Und was sind die Motive, seine Familie mitzunehmen? Arne Kreuz glaubt offenbar, dass Frau und Kinder ohne ihn nicht zurechtkommen würden.

Ja, das sagt er, aber wir sehen, dass das nicht stimmt. Seine Frau hat sich getrennt und ist selbstständig geworden; sie hat sogar eine andere Beziehung aufgebaut. Arne Kreuz handelt nicht aus Mitleid, wenn er versucht, seine Familie mit in den Tod zu nehmen. Er will seinen Besitz mitnehmen, das ist sein Motiv. Das ist die typische Dynamik einer narzisstischen Tötung, und zwar eine schlimme Form des Narzissmus.

Nachdem Arne seinen Entschluss gefasst hat, agiert er sehr planvoll und ruhig. Dabei vergehen Stunden zwischen den Taten. Wie ist das zu erklären?

Das erklärt sich durch die Persönlichkeitsstruktur des Täters. Bei narzisstisch gestörten Persönlichkeiten wie der hier gezeigten ist die emotionale Bindung zu anderen Menschen defizitär. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden in der Regel ausbeuterisch gestaltet; das heißt, es muss immer ein Gewinn dabei herausspringen. Es fehlt diesen Menschen an Empathie, die Erschütterung über das schlimme Schicksal der anderen; ihre Beziehungen zu anderen sind oberflächlich.

Die Auffindungssituation der Getöteten in diesem Film ist sehr ungewöhnlich. Ist Ihnen so etwas auch mal begegnet?

Nicht in dieser Form, aber das Ritualisierte daran ist durchaus typisch. Es erinnert mich an den Fall eines Mannes, den ich begutachtet habe. Er hat seinen eigenen Sohn getötet, um die Frau, die ihm weggelaufen war, zu bestrafen, und er wählte dazu ebenfalls eine ritualisierte Form: Er brachte das Kind ans Ufer eines Flusses, nachdem er vorher ein paar schöne Stunden mit ihm verbracht und ihm alles gekauft hatte, was es sich wünschte. Am Fluss hob er das Kind hoch, küsste es auf die Stirn und sagte: Was ich jetzt mache, hat nichts mit dir zu tun und du wirst es nicht verstehen. Dann warf er es ins Wasser, wo es ertrank. Die Parallele liegt nicht in der Art des Rituals, sondern darin, dass ein Ritual stattfindet.

Warum schockieren uns solche Taten so sehr?

Solche Taten sind für den zivilisierten Menschen schockierend, weil eine doppelte Enttabuisierung darin liegt. Die erste ist die Enttabuisierung des menschlichen Lebens. In unserer zivilisatorischen Entwicklung haben wir seit Jahrtausenden festgelegt, dass das menschliche Leben tabu ist: Du sollst nicht töten. Das zweite Tabu, gegen das hier verstoßen wird, ist die Tötung des eigenen Kindes, für das man verantwortlich ist und das man eigentlich schützen sollte. Dass so eine doppelte Enttabuisierung möglich ist, schockiert die Menschen.

"Lebensbankrott trifft auf Persönlichkeitsstörung" erklärt die Ermittlerin im Film die Zusammenhänge, die zur Tat geführt haben. Können Sie das bestätigen, ist das eine tödliche Kombination?

Das ist eine gute Formulierung und das ist auch eine häufige Form. Ich habe das in meinem Buch "Intimizid" beschrieben, denn bei der Tötung des Intimpartners wirken diese beiden Faktoren besonders häufig zusammen. Ein Mann, der sich in seiner Beziehung stets vor allem durch seine angeblichen Erfolge definiert hat, hat, wenn ihm diese Erfolge plötzlich versagt bleiben, nicht die Kraft, das seiner Partnerin zu gestehen, und wartet immer weiter ab, bis schließlich die Zwangsräumung ansteht oder die Pfändung oder so etwas. Und kurz davor, kurz bevor das eigene Versagen unweigerlich auffliegen wird, tötet er seine Frau. So etwas kommt vor; ich habe solche Täter begutachtet. Aber das heißt natürlich nicht, dass jeder Bankrotteur seine Frau umbringt, um sein Versagen nicht eingestehen zu müssen, sondern es gehört unbedingt eine besondere Persönlichkeitsstruktur dazu. Und diese Persönlichkeitsstruktur ist in der Regel die narzisstische Persönlichkeit, wie wir sie in diesem Film sehen.

Gibt es Erklärungen dafür, wie es zu einer solchen Persönlichkeitsstörung kommt? Welche möglichen Ursachen gibt es?

Darauf gibt es keine Antwort. (lacht) Das ist eine Frage, die die Psychiatrie seit Jahrhunderten beschäftigt, und sie ist nicht geklärt. Ich gehe davon aus, dass es verschiedene Ursachen gibt, die zusammenwirken, genetische, biologische, psychologische usw. Aber es gibt nicht die Ursache, das ist ein multidimensionales Problem.

Im Film heißt es, es handele sich um eine "klassisch männliche Tat". Sind Ihnen auch Beispiele bekannt, in denen Frauen versucht haben, ihre Familie auszulöschen?

Ja, es gibt weibliche Beispiele, aber hier sind die Männer deutlich in der Überzahl. Das liegt daran, dass auch die narzisstische Persönlichkeit sehr stark mit Männlichkeitsidealen verbunden ist.

Was geschieht mit Tätern wie Arne Kreuz, wenn es ihnen nicht gelingt, sich selbst auch zu töten? Sind sie uneingeschränkt schuldfähig? Welche Strafe steht ihnen bevor?

Dieser hier würde mit Sicherheit verurteilt. Das Gesetz sagt, dass eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit besteht, wenn eine schwere krankhafte psychische Störung vorliegt, also eine Psychose oder eine schwere Minderbegabung oder eine schwere Neurose. Die Diagnose Persönlichkeitsstörung allein reicht nicht aus; es müssen auch andere konstellative psychopathologische Faktoren hinzukommen, die die Persönlichkeit schwer desorganisieren. Der Mann hier im Film konnte planen und abwägen; er hätte die Möglichkeit gehabt, anders zu handeln, als er gehandelt hat; seine narzisstische Persönlichkeitsstörung würde nicht für eine Schuldunfähigkeit ausreichen. Wenn das Gericht auf Mord erkennen würde, würde er lebenslänglich kriegen.

Und was wird aus Kindern, die solche Taten überleben? Wie verarbeiten sie das Geschehen?

Die sind natürlich schwer traumatisiert. Sie benötigen eine lange, lange, psychotherapeutische Behandlung.

Sie haben sehr kenntnisreich und einfühlsam über Menschen geschrieben, die unter bestimmten Umständen zu Mördern geworden sind. Verfolgen Sie ein aufklärerisches Anliegen damit?

In meinem Buch über Sexualmörder habe ich einen flammenden Prolog geschrieben, in dem ich das erläutere. Ich möchte aufklären und Pauschalurteilen entgegenwirken. Wenn so etwas geschieht, was natürlich ein furchtbares Verbrechen ist, wird schnell geschrien: "Kreuzige ihn, kreuzige ihn!" Aber wir müssen hinschauen und fragen, warum etwas geschieht. Eine Mutter tötet ihre Kinder. Diese Frau ist damit nicht sofort eine Medea, sondern ein enorm unglücklicher Mensch. Das möchte ich erklären. Ich möchte einen Beitrag zur Aufklärung leisten, und ich freue mich, wenn diese Aufklärung weitergeben wird.

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