"Der IS bietet jungen Männern ein perfides Heilsversprechen"

Gespräch mit Drehbuchautor Florian Oeller

»Der IS bietet jungen Männern wie Enis ein perfides Heilsversprechen.«

TATORT: Hakim (Kais Setti) schießt um sich.
Der Film erzählt, wie ein Terrorist nach Hause kommt. | Bild: NDR / Marion von der Mehden

Die Terroranschläge von Paris haben Ihrer Geschichte eine schreckliche Aktualität verliehen. Wann haben Sie das Buch geschrieben?

Der erste Rahmen dieser Geschichte entstand Anfang 2014. Mit Terrorismus hatte sie noch nichts zu tun. Die Erzählung konzentrierte sich auf eine Schmugglerbande, die ein Sicherheitsleck am Flughafen nutzt, um illegale Einwanderer aus China nach Deutschland zu schleusen. Auslöser der Idee war eine Zeitungsmeldung über ein privates Dienstleistungsunternehmen, das sein Wachpersonal an den Sicherheitsschleusen am Flughafen München unter Tariflohn beschäftigte. Trotz der nachhaltig verschärften Terrorismusgefahr nach 9/11 erhielten die Bewacher unserer hochsensiblen, globalen Drehscheiben nicht mal den heute üblichen Mindestlohn. Ich fragte mich: Sind diese schlecht bezahlten Menschen, die den Flughafen und seine Schlupfwinkel kennen wie niemand sonst, nicht zwangsläufig bestimmten Verführbarkeiten ausgesetzt?

Haben Sie recherchiert, wie es auf einem Flughafen zugeht?

Wenn Sie so wollen, recherchiere ich jedes Mal, wenn ich einen betrete. Mich haben Flughäfen schon immer fasziniert. Ein Aspekt ist das Sittengemälde, das Abbild unserer Gesellschaft, das Oben und Unten, das sich einem beim Rundblick bietet. Unter den Reisenden sind viele, die so rastlos wirken, als ob sie vielleicht niemals irgendwo ankommen. Unter dem Personal hingegen gibt es Menschen, die festsitzen und vielleicht keine Hoffnung mehr haben, ihren Platz in der Gesellschaft ändern zu können. Darüber hinaus sind Flughäfen für mich ein Schmelztiegel von Emotionen: Hier nimmt man Abschied oder freut sich auf ein Wiedersehen, man reist ins Unbekannte oder kommt nach Hause.

Der Film erzählt, wie ein Terrorist nach Hause kommt.

Ja. Als ich damals über die Terrorgruppe Islamischer Staat und ihre Strategie recherchierte, den Krieg in den Westen zu tragen, kam mir der Gedanke, die Geschichte zu erweitern: Menschenschmuggler verstehen sich selbst oft als Fluchthelfer und Dienstleister für Flüchtlinge in Not, die Grenzen überwinden müssen, die sie auf legalem Weg nicht überwinden können. Was passiert aber, wenn diese ambivalente Auslegung des Begriffs „Fluchthilfe“ von Terroristen instrumentalisiert beziehungsweise missbraucht wird?

Ihr Islamist ist Mitglied der Braunschweiger Brigade. Ist die Gruppe eine Erfindung?

Eine mit realem Vorbild: Die Lohberger Brigade war eine Gruppe junger Männer aus dem gleichnamigen Stadtteil in Dinslaken. Von dort aus waren 2013 mehr als ein Dutzend deutscher Islamisten nach Syrien in den Dschihad gezogen. Angeblich stand der Drahtzieher der Pariser Attentate in engem Kontakt zur Gruppe. Die meisten sind inzwischen tot. Von nur noch wenigen existieren Lebenszeichen.

Haben Sie deren Familien aufgesucht?

Ich habe mit zwei Familien Gespräche geführt. Die eine trauerte um ihren Sohn, der in Syrien getötet wurde. In der anderen wird ein junger Mann im Irak vermisst. Die Eltern quält die Angst vor dem Moment, in dem ihnen widerfährt, was in Kreisen der Islamisten vorkommt: Dass eines Tages das Telefon klingelt und eine Stimme die frohe Botschaft überbringt, dass ihr Sohn für Allah ins Paradies gegangen ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schrecklich die Angst der Eltern um ihr Kind und vor diesem Moment sein muss. Sie sehen hilflos mit an, wie ihre Söhne sich radikalisieren und auf einmal verschwinden – und warten seither oft vergebens auf deren Rückkehr. Diese Tragik wollte ich beleuchten und so auch die Worte einer Mutter aufgreifen, die ich gefragt hatte, was Sie Ihrem Sohn sagen würde, wenn er eines Tages bei ihr anrufen würde. Sie antwortete ohne zu zögern: "Ich liebe dich, mein Kind, du bist herzlich willkommen, lass' uns feiern, dass du noch lebst." In meinem Drehbuch ist es ein Vater, der seinen Sohn unter Tränen anfleht, nach Hause zu kommen. Es sind für mich die wichtigsten Szenen des Films.

Handelt Ihre Figur Enis aus religiösen Motiven?

In meinen Augen ist es so: Der IS bietet jungen Männern wie Enis, die sich in der Gesellschaft nirgendwo zugehörig fühlen, eine Mitgliedschaft in einem Klub, der mit einem vermeintlich attraktiven Angebot lockt: Wir vom IS sind die Auserwählten, die für eine Sache kämpfen dürfen, die wichtiger und besser ist als dein Leben im Hier und Jetzt – inhaliere diese Regeln, sterbe für unsere Sache und du wirst ein Gewinner sein. Das ist keine religiöse Bewegung, sondern ein leeres, perfides Heilversprechen, dass junge Männer wie Enis dort erreicht, wo sie verführbar sind: in ihrer Wut auf die Welt. Enis ist aus einer solchen Wut heraus der Gemeinschaft des IS beigetreten – jetzt stellt sich die Frage, wie er an einen Punkt gelangen kann, an dem er diese Entscheidung in Zweifel zieht. Diese Entwicklung wollte ich erzählen.

Was bedeutet es, wenn Enis zu dem Schleuser sagt: "Du bist wie ich"?

Beide sind im gleichen Viertel und gleichen Milieu großgeworden. Sie hatten beide mit ähnlichen Formen von sozialer Benachteiligung zu kämpfen. Diese Basis, dieses gemeinsame Bewusstsein, ist für Enis der Auslöser, Rocky missionieren zu wollen. Er sagt: Bleib' kein kleiner Menschenschmuggler, werde ein großer Gotteskrieger wie ich. Im Grunde sind das die gleichen Verführungsmuster wie in rechtsextremen Milieus. Während meiner Recherchen sagte mir ein Radikalismusexperte, ob man nun im Osten als vermeintlich perspektivloser Deutscher vom Klub der Neonazis abgeholt wird oder als Immigrant der zweiten, dritten oder vierten Generation von Islamisten eingefangen wird – die Heilsversprechen sind die gleichen.

Wie ist Regisseur Özgür Yildirim mit Ihrem Buch umgegangen?

Özgür hat diese Erzählung mit großem Gespür inszeniert. Vor seinem Auge hat er die Bühne gesehen, gebaut und die Schauspieler dazu gebracht, diese Geschichte zum Leben zu erwecken. Zu Özgürs hohen Qualitäten als Filmemacher kommt eine ausgeprägte ethnische und soziale Kompetenz. Man spürt, wie sensibel und genau er mit den Figuren und vor allem deren Sprache umgegangen ist.

Warum schreiben Sie bevorzugt Krimis?

Krimis faszinieren mich. Zum einen, weil es mich immer wieder aufs Neue reizt, das so genannte Böse nicht nur faszinierend, sondern auch nachvollziehbar zu erzählen. Den Zuschauer an den Punkt zu bringen, wo er denkt, ja, das kann ich nachempfinden, so hätte ich an der Stelle des Täters möglicherweise auch gehandelt. Mich interessiert, welche Gefühle, Umstände, Verstrickungen und Abhängigkeiten einen Menschen in einen Mord treiben können. Zum anderen ist der Krimi in meinen Augen das perfekte trojanische Pferd, um die Zuschauer zu unterhalten und ihnen nebenbei zu zeigen, was gesellschaftliche Strömungen aller Farben an Fragestellungen, Auswirkungen oder Bedrohungen bereithält. Auch deshalb fühle ich mich mit meiner Arbeit beim "Tatort" oder dem "Polizeiruf 110" gut aufgehoben.

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