Faktencheck zur Wahlarena mit Annalena Baerbock am 6.9.21

Annalena Baerbock (M), Spitzenkandidatin von Bündnis90/Die Grünen zur Bundestagswahl, steht gemeinsam mit den Moderatoren Andreas Cichowicz (l), NDR Chefredakteur, und Ellen Ehni, WDR Chefredakteurin in der ARD-Wahlarena zur Bundestagswahl in der Kulturwerft Gollan.
Annalena Baerbock (M), Spitzenkandidatin von Bündnis90/Die Grünen zur Bundestagswahl, steht gemeinsam mit den Moderatoren Andreas Cichowicz (l), NDR Chefredakteur, und Ellen Ehni, WDR Chefredakteurin in der ARD-Wahlarena zur Bundestagswahl in der Kulturwerft Gollan. | Bild: picture alliance/dpa / Axel Heimken

Faktencheck von Tom Klees und Anna Herbst

Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen?

Gleich zu Beginn der ARD-Wahlarena mit Annalena Baerbock geht es um die Frage nach einem generellen Tempolimit von 130 Kilometer pro Stunde auf Autobahnen, für das sich die Grünen einsetzen.

Dazu Annalena Baerbock:

„Wir haben ja auf deutschen Autobahnen eh schon die Situation mit Baustellen und ganz vielen Reduzierungen. Die meisten Strecken sind ja ohnehin schon limitiert.“

Bewertung:

Nach Angaben des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) gilt auf rund 23 Prozent der deutschen Autobahnen ein streckenbezogenes, dauerhaftes Tempolimit. Zusätzlich gilt auf rund sechs Prozent ein streckenbezogenes, situationsabhängiges Tempolimit. Im Umkehrschluss bedeutet das: Auf rund 70 Prozent der deutschen Autobahnen gibt es keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Bei der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen handelt es sich lediglich um eine Empfehlung.

Damit liegt Annalena Baerbock mit ihrer Aussage falsch. Auf dem Großteil der deutschen Autobahn gibt es keine Geschwindigkeitsbegrenzung.

Quellen:
www.dvr.de/fileadmin/downloads/beschluesse/2020-generelle-tempolimits-auf-bundesautobahnen
www.vda.de/dam/vda/publications/2021/Positionspapiere/VDA_5566_CD_2021_Position_Fakten_gegen_ein_generelles_Tempolimit

50 Milliarden Euro aus Steuerhinterziehung?

Ein Zuschauer möchte wissen, wie die Grünen ihre Wahlversprechen finanzieren möchten.

Dazu Annalena Baerbock unter anderem:

„Mit Blick auf das, was derzeit am Fiskus vorbeigeht: 50 Milliarden Euro gehen jährlich dem Staat verloren, dadurch dass es Geschäfte gibt, wo nicht vernünftig besteuert wird oder im Immobilienbereich Geldwäsche betrieben wird. Deswegen ist für mich der wichtigste Punkt, diesen Steuerbetrug von 50 Milliarden Euro in Zukunft wirklich in Gänze anzugehen.“

Der Ökonom Dr. Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) dazu:

„Es gibt ein breites Spektrum illegaler Steuerhinterziehung. Viele Unternehmer oder vermögende Privatleute haben Schwarzgeld und wirtschaften am Finanzamt vorbei. Umsatzsteuerbetrug durch Firmen spielt eine große Rolle – da ist teilweise auch das organisierte Verbrechen aktiv. Und die Steueroase des kleinen Mannes und der kleinen Frau ist die Schwarzarbeit – in Gastronomie, Handel, Handwerk und Landwirtschaft oder in Privathaushalten. Der Umfang ist naturgemäß schwer zu quantifizieren, aber für alles zusammen sind 50 Milliarden Euro im Jahr eher die Untergrenze. Schätzungen gehen bis weit über 100 Milliarden Euro.

So gut wie ausgeschlossen ist aber, dass dieses Geld im Laufe der nächsten Legislaturperiode mobilisiert und für sinnvolle Zwecke genutzt werden kann. Dazu muss man zunächst die Prozesse in der Finanzverwaltung optimieren, mehr Personal rekrutieren und die Datenverarbeitung verbessern. Das kann leicht 5 Jahre und mehr dauern, bis man da einen nennenswerten Effekt hat. Aber langfristig ist das möglich, die skandinavischen Länder sind da deutlich weiter. Erschwerend kommt bei uns hinzu, dass die Finanzverwaltung Ländersache ist. Da hatte man bisher eher den Eindruck, dass die Finanzbehörden der Bundesländer gerne auch ihre einheimische Klientel schützen, damit „das Geld im Lande bleibt“ und nicht über den Finanzausgleich abfließt. Und bei der Schwarzarbeit fehlt der politische Wille, das wirksam zu unterbinden.“

30.000 Stellen fehlen bei der Polizei?

Ein Zuschauer fragt, wie Annalena Baerbock Deutschland zukünftig sicherer machen möchte und sagt in diesem Zusammenhang, dass in der letzten Zeit viele Polizistinnen und Polizisten entlassen worden seien und insgesamt 30.000 Kräfte fehlen würden.

Dazu sagt die Gewerkschaft der Polizei (GdP), dass im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, 15.000 Polizistinnen und Polizisten einzustellen – 7.500 bei der Bundespolizei, 7.500 bei den Ländern. Dieses Ziel sei erreicht worden. Dennoch würden weiterhin viele Polizistinnen und Polizisten fehlen, vor allem weil bis 2025 bundesweit 50.000 Beamtinnen und Beamte in Pension gehen würden. Eine genaue Bezifferung, wie viel Personal der Polizei fehlt, sei jedoch schwierig, da die einzelnen Polizeibehörden der Länder dies unterschiedlich berechnen würden, sich neueingestellte Polizistinnen und Polizisten noch in der Ausbildung befinden und es teilweise eine nennenswerte Abbrecherquote in der Polizeiausbildung gäbe. Vor diesem Hintergrund schätzt die GdP, dass insgesamt 20.000 Polizistinnen und Polizisten fehlen würden.

Glasfaserausbau – von Spanien lernen?

Mit Blick auf den nur schleppend vorangehenden Glasfaserausbau, insbesondere in ländlichen Gebieten, möchte die grüne Spitzenkandidatin von anderen Ländern lernen.

Annalena Baerbock sagte:

„Wie haben es denn andere Länder gemacht? Spanien zum Beispiel hat auch erst gesagt ‚Wir schreiben das erst einmal aus und gucken dann was passiert‘. Als dann der Punkt gekommen war und man gesehen hat, es geht nicht schnell genug, wurde gesagt ‚Die Bundesebene muss hier mit in die Verantwortung gehen‘. Genau das ist das, was ich in Zukunft auch machen möchte.“

Bewertung:

Tatsächlich liegt Spanien was den Glasfaserausbau betrifft weit vor Deutschland. Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen, dass der Anteil von Glasfaseranschlüssen an allen Breitbandanschlüssen in Spanien über 73 Prozent beträgt. In Deutschland sind es dagegen nur 5,36 Prozent.

Welche Rolle spielt die spanische Regierung bei diesem schnellen Ausbau?

Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung konnte Spanien seit 2011 aufgrund wettbewerbsfördernder Regulierungen einen sprunghaften Anstieg der Glasfaserzugänge in Städten verzeichnen. Aus diesen Regulierungen seien Kooperationen zwischen den Telekommunikationsanbietern entstanden. Allerdings ist dabei der ländliche Raum vernachlässigt worden. Die spanischen Telekommunikationsanbieter wollen in Zukunft verstärkt die ländlichen Gebiete versorgen. Bis 2025 soll Spanien nahezu 100 Prozent Glasfaserabdeckung haben.

Baerbock hat hier insofern Recht, als dass die Beteiligung der spanischen Regierung maßgeblich zum schnellen Ausbau des Glasfasernetzes in Spaniens beigetragen hat. Allerdings gilt das zunächst nur für die Städte. Die ländlichen Gebiete werden erst nach und nach versorgt.

Quellen:
https://www.oecd.org/sti/broadband/broadband-statistics/
https://www.oecd.org/sti/broadband/1.10-PctFibreToTotalBroadband-2020-12.xls
https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/ausbaustrategien-fuer-breitbandnetze-in-europa
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/technologie/spanien-schnelles-internet-glasfaser-101.html

Stromversorgung in Deutschland unsicher?

Zum Thema erneuerbare Energien führt ein Zuschauer an, dass es am 14. August 2021 einen Stromausfall gab, in dessen Folge Industrieunternehmen vom Netz genommen werden mussten. Er macht sich deshalb Sorgen, dass es in Deutschland künftig zu flächendeckenden Versorgungsengpässen kommen könnte, wenn die erneuerbaren Energien weiter ausgebaut werden.

Dazu Prof. Dr. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW):

„Derartige abschaltbare Lasten sind völlig normal in einem Stromsystem, wenn in wenigen Zeiten im Jahr zu wenig Strom produziert wird, was an jenem Samstagabend der Fall war und einige Industrieunternehmen gegen Entgelt kurz vom Netz genommen wurden. Derartige Fälle sind jedoch sehr selten und haben im Zuge der Energiewende nicht zugenommen. Im Gegenteil, viel häufiger sind Zeiten mit sehr viel Strom aus erneuerbaren Energien, der entweder ins Ausland verkauft oder gespeichert werden kann.“

Annalena Baerbock sagte als Reaktion auf die Bedenken des Zuschauers:

„Es wird nicht zu flächendeckenden Versorgungsengpässen kommen. (…) Wir haben einen europäischen gemeinsamen Energiemarkt und da wird auch die Netzstabilität und die Stromversorgung sichergestellt.“

Dazu Prof. Dr. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW):

„Frau Baerbock hat Recht, dass der EU-Strommarkt wichtig ist zur Versorgungssicherheit in Europa. Deutschland exportiert seit vielen Jahren mehr Strom ins Ausland per Saldo als es importiert. Dies wird auch in Zukunft so sein können, wenn in Deutschland der Zubau erneuerbarer Energien nicht weiter ausgebremst wird. So wäre auch eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien in Deutschland möglich, auch ohne vermehrt Strom aus dem Ausland importieren zu müssen.“

Atomwaffen verbieten?

Auf die Frage eines Zuschauers, warum der Atomwaffenverbotsvertrags (AVV) noch nicht unterschrieben wurde, verwies Baerbock auf notwendige Verhandlungen mit den USA über die in Deutschland gelagerten Atomwaffen.

Annalena Baerbock sagte:

„Das bedeutet, dass man mit den Amerikanern jetzt in Abrüstungsschritten darüber reden muss ‚was ist mit den amerikanischen Atomwaffen‘? (…) Damit man dann den Atomwaffenverbotsvertrag von deutscher Seite auch entsprechend unterzeichnen kann.“

Bewertung:

Am 22. Januar 2021 trat der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Kraft. Mit der Unterzeichnung verpflichtet sich ein Staat, u.a. den Einsatz, die Herstellung oder die Lagerung von Atomwaffen zu verbieten und zu ächten. Deutschland hat diesen Vertrag nicht unterschrieben. Als NATO-Bündnispartner und Teil des Konzepts der Nuklearen Teilhabe, ist Deutschland ein Land, in dem die USA Atombomben stationiert haben.

Wie viele Atomwaffen lagern in Deutschland?

Schätzungen zufolge lagern 20 Atombomben auf dem Luftwaffenstützpunkt im rheinland-pfälzischen Büchel. Offizielle Zahlen dazu gibt es von Bundesregierung nicht.

Quellen:
https://www.tagesschau.de/inland/atomwaffen-verbotsvertrag-103.html
https://www.un.org/Depts/german/conf/a-conf-229-17-8.pdf