Scharfe Kritik am Onlinezugangsgesetz
REPORT MAINZ-Umfrage: diverse Ämter bundesweit am Limit
Viele Behörden sind bei der Sachbearbeitung überlastet, das zeigt eine REPORT MAINZ-Umfrage unter den 100 größten deutschen Städten. Amtsleiter klagen über Personalmangel und zu viel Bürokratie. Eine schnellere Digitalisierung sollte Abhilfe schaffen. Doch die Umsetzung läuft schleppend.

Um die Verwaltung effizienter zu gestalten, wurde 2017 das Onlinezugangsgesetz (OZG) verabschiedet. Dieses Gesetz verpflichtet Bund, Länder und Kommunen bis Ende 2022 Verwaltungsleistungen auch digital anzubieten und jeder Nutzerin und jedem Nutzer den Zugriff darauf mit „nur wenigen Klicks“ zu ermöglichen. Dies ist aber sehr selten der Fall. Das ist das Ergebnis der anonymen Umfrage des ARD-Politikmagazins REPORT MAINZ unter Amtsleitern in Sozialämtern, Bürgerämtern, Bauaufsichtsbehörden und Elterngeldstellen in den 100 größten deutschen Städten.
Onlinezugangsgesetz gescheitert?
Aus der REPORT MAINZ-Umfrage geht hervor, dass nur 8 von 71 auf die Frage, ob Ihnen gelungen sei das OZG bis Ende 2022 umzusetzen, mit „Ja“ antworteten.
Auch bei Ämtern, die mit digitalen Anträgen arbeiten, geht es nicht schneller. In der Städteregion Aachen beispielsweise liege die Bearbeitung von Elterngeldanträgen bei mehreren Monaten, wie der Sozialdezernent der Städteregion, Michael Ziemons (CDU) im Interview mit dem ARD-Politikmagazin angibt.
Ausgedruckte Anträge werden in den Ämtern wieder eingescannt
Jeden Tag kämen kistenweise Anträge per Post. Obwohl die Städteregion über einen digitalen Elterngeldantrag verfügt, muss dieser im Amt aufgrund verschiedener Vorschriften noch immer als Ausdruck mit Unterschrift eingereicht werden. Jeder dieser Anträge müsse einzeln gescannt werden, so Ziemons. „Das bedeutet für alle Beteiligten unnötig viel Arbeit. Und in der Regel fehlt dann ein Dokument oder ist nicht eindeutig. Am Ende geht fünfmal Post hin und her, bevor wir den Antrag bearbeiten können.“
Auch mit dem neuen bundeseinheitlichen Elterngeldantrag, den es seit Januar gibt, sei diese Situation nicht viel besser geworden, kritisieren andere Amtsleiter gegenüber REPORT MAINZ. Er sei „aufgebläht und unübersichtlicher“, so die Kritik. Nicht alle Länder haben ihn umgesetzt.
Mehrere Amtsleiter beklagen in der REPORT MAINZ-Umfrage, dass das OZG die Behörden nicht entlaste. Eine Entlastung erfolge erst, wenn die Online-Anträge „medienbruchfrei“ seien. Das heißt, auch online versendbar sind und direkt in die vorhandene Software übernommen werden können, ohne dass „die Anträge ausgedruckt“ und „die Angaben nochmal eingepflegt werden“ müssten, schreibt ein Sozialamtsleiter aus Schleswig-Holstein.
Als Gründe für die mangelnde Umsetzung werden unter anderem gesetzliche Hürden, nicht genug Geld und fehlendes Fachpersonal angegeben.
„Der Füller wird durch den PC ersetzt“
Prof. Hans-Henning Lühr, Verwaltungswissenschaftler an der Uni Bremen, sagt, das OZG sei zu kurz gesprungen: „Man hat im Grunde die klassische Bürokratie elektronifiziert und gesagt: Nicht mehr mit der Hand ausfüllen, sondern mit dem PC ausfüllen! Aber das ist keine digitale Verwaltung. Der Füller wird nur durch den PC ersetzt.“
Auch Prof. Dr. Thomas Meuche, Leiter des Kompetenzzentrums Digitale Verwaltung, Hochschule Hof, kritisiert: die Bürger müssten einen richtigen Onlinezugang haben, der bisherige ende am Rathaus. „Und was danach passiert, interessiert das Onlinezugangsgesetz nicht,” so Meuche. Dabei könne eine bessere Digitalisierungsstrategie die Ämter wesentlich entlasten - unter anderem, um den sich zuspitzenden Personalmangel zu kompensieren.
„Daten sollen laufen und nicht die Bürgerinnen und Bürger“
Er sieht einen Lösungsansatz in einer gezielten Verknüpfung bereits vorhandener Daten. „Die ganze Digitalisierungsdebatte der öffentlichen Verwaltung klammert die Basis der Digitalisierung aus: Und die heißt Daten. Das heißt, wir haben unterschiedlichste Datentöpfe, die aber teilweise nicht miteinander verknüpft sind.“
Vorbild: Bremen
Wie es funktionieren kann, zeigt das Beispiel Bremen. Hier sind Kindergeld, Elterngeld und Geburtsurkunde mit wenigen Klicks papierlos beantragbar. Um das zu ermöglichen, wurden extra Gesetze angepasst. Das habe viel Überzeugungsarbeit gekostet, erzählt der verantwortliche Staatsrat Martin Hagen, B´90/Grüne. „Technisch kann man das alles realisieren. Die Hauptherausforderung ist, dass Sie alle dazu kriegen, dieselbe Technik miteinander zu verknüpfen.“
Für Hans-Henning Lühr der richtige Ansatz: „wir müssen möglichst nicht noch mal die Daten erheben, die der Staat schon hat, sondern die Daten sollen laufen und nicht die Bürgerinnen und Bürger von Amt zu Amt.”
Arbeitsbelastung stark gestiegen
Das würde auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Behörden entlasten, was laut Umfrage dringend notwendig ist. Von 117 teilnehmenden Ämtern gaben 115 an, dass die Arbeitsbelastung in den vergangenen fünf Jahren zugenommen oder sogar stark zugenommen habe. Vor allem Gesetzesänderungen führten zu Mehraufwand bei bestehenden Prozessen, bei gleichzeitigem Mangel an Personal.
Auf die Frage „fühlen Sie oder einige Ihrer Mitarbeiter sich aufgrund der hohen Arbeitsbelastung ausgebrannt oder am Limit“ antworten 72 der Teilnehmenden mit „Ja.“
Besonders schwierig ist, laut Umfrage, die Situation in den Sozialämtern. Hier beantworteten 26 von 34 diese Frage mit „Ja“. Das Sozialamt im Berliner Bezirk Neukölln musste beispielsweise im November vergangenen Jahres für einen Zeitraum von zwei Wochen die Türen für den Publikumsverkehr schließen, um angestaute Rückstände abzuarbeiten. Doch Monate später hätten sie nach wie vor viele Rückstände, so eine Gruppenleiterin gegenüber REPORT MAINZ. Die hohe Anzahl der Akten sei für die Mitarbeitenden kaum noch zu schaffen. „Jeder, der hier arbeitet, möchte sehr gute Arbeit machen. Der sitzt hier, weil er für die Leute zeitnah das Richtige bewirken will, und kriegt es nicht mehr hin. Da fließen auch Tränen.“ Die Bearbeitungsdauer von Grundsicherungsanträgen liege im Bezirk inzwischen bei durchschnittlich sechs Wochen.
Situation bundesweit ähnlich angespannt
Die Arbeitsbelastung führt der REPORT MAINZ-Umfrage zufolge auch in Sozialämtern anderer Städte zu Verzögerungen in der Sachbearbeitung. Das geben 25 von 34 Antwortenden an. Eine Behördenleitung aus Baden-Württemberg spricht in diesem Zusammenhang von einem „Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit des Staates.“
„Die Arbeit ist nicht ansatzweise zu schaffen, was Schlaflosigkeit, innere Unruhezustände, Depressionen sowie weitere Erkrankungen“ auslöse, schreibt ein Behördenleiter aus Schleswig- Holstein. Die Mitarbeiter fühlten sich mit der Situation „allein gelassen, ohnmächtig und ihrer Aufgabe teilweise nicht mehr gewachsen“, so ein Behördenleiter aus dem Saarland. Es bestünden Ängste, die Aufgaben nicht zeitnah und korrekt erledigen zu können oder dem Druck nicht standzuhalten und auszufallen.