Flüchtlingsgipfel: Kann Deutschland den Zustrom schaffen?

Ein Landrat aus Bayern warnt, er habe keine adäquaten Ressourcen mehr für die Unterbringung von Geflüchteten. Hinzu kommt, dass den Kommunen immer weniger freiwillige Helfer zur Verfügung stehen. Eine Umfrage von REPORT MAINZ unter den 52 sogenannten Helferkreisen zeigt: Zwei Drittel beklagen den Rückgang der freiwilligen Helfer.

Auch an den Schulen spitzt sich die Lage immer weiter zu. Eines der Hauptprobleme: die Sprachförderung. Der Bedarf an zusätzlichen Lehrkräften steigt. Länder und Kommunen ringen um Lösungen und fordern mehr Geld vom Bund. Der Bund betont, man habe schon viel Geld gegeben. Ein Kompromiss scheint schwierig.

Text des Beitrags:

Akram… und sein neues Zuhause. Ein Schrank, ein Bett und ein bisschen Licht.  

Akram
Akram | Bild: SWR

Akram, Geflüchteter:  
"Das habe ich so nicht erwartet. Manchmal setzt mich das psychisch ganz schön unter Druck. Aber trotzdem ist es viel besser als ein Ort im Krieg."

Akram kommt aus dem Bürgerkriegsland Jemen, flüchtete vor mehr als einem halben Jahr. Er hat uns gebeten, seinen Nachnamen nicht zu nennen. Jetzt lebt er auf ungefähr sechs Quadratmetern, die er mit bis zu drei anderen Geflüchteten teilen muss. Seit vier Monaten schon.  

Akrams neues Zuhause von oben: Wir sind im Landkreis Dachau in Bayern. Früher war das mal ein Reitsport-Geschäft. Jetzt ist es Unterkunft für bis zu 140 Geflüchtete. Die eng an eng leben müssen, in kleinen Parzellen, getrennt von Bauzäunen, Stahlschränken.  

Hilferuf des Dachauer Landrats: Er habe keine adäquaten Unterbringungen mehr 

Eigentlich soll das hier nur eine Zwischenstation sein, für ein paar Tage. Doch inzwischen kommen so viele Geflüchtete in den Landkreis - 100 jeden Monat, dass der Landrat nicht mehr weiß, wohin mit ihnen.  

Stefan Löwl, CSU, Landrat Kreis Dachau: 
"Hopefully we find better places, but so many people coming."

Doch viel Hoffnung auf Besserung hat Stefan Löwl im Moment nicht.  

Stefan Löwl
Stefan Löwl | Bild: SWR

Stefan Löwl, CSU, Landrat Kreis Dachau: 
"Ich habe halt nichts Besseres. Wir haben einfach keine Ressourcen mehr für die Unterbringung, zumindest keine adäquaten. Und deswegen sagen wir, wir brauchen da Hilfe und wir brauchen halt auch eine Beschränkung des Zugangs."  

Der Hilferuf eines Landrats, nicht der einzige in diesen Tagen. Angesichts einer sich immer weiter zuspitzenden Lage. Die Kommunen sind am Limit - brauchen Geld und mehr Wohnraum. Kein Wunder: Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ist nach Behördenangaben in den vergangenen vier Monaten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um mehr als 68 Prozent gestiegen. Auf rund 111.000. Mit denen jetzt die Kommunen fertig werden müssen. Hinzu kommen die mehr als eine Million Geflüchtete aus der Ukraine, die mittlerweile in Deutschland leben.  

Viele Kommunen an der Grenze ihrer Belastungsfähigkeit 

REPORT MAINZ hat bundesweit alle 401 kreisfreien Städte und Landkreise befragt. Wie hoch ist die Belastung? Fast die Hälfte hat geantwortet: 69 Prozent sagen, der Zustrom sei gerade noch zu bewältigen. 17 Prozent geben an, sie seien bereits über dem Limit. Eine neue Zuspitzung also - die Deutschland diesmal nur mit Mühe zu schaffen scheint?  

Es erinnert vieles an das Jahr 2015. Wo ebenfalls viele Geflüchtete nach Deutschland kamen. Auch wegen Bildern wie diesen hier. Deutschland als Magnet für Geflüchtete: Das scheint noch immer so zu sein. Für Akram und seine Mitbewohner in Dachau ganz sicher.  

Akram, Geflüchteter: 
"Viele andere Länder haben uns nicht geholfen. Wir bekommen hier alle Dienstleistungen angeboten."

Bashar,  Geflüchteter: 
"Deutschland ist für mich und für uns ein gutes und schönes Land. Wir lieben Deutschland und die Kultur." 

Der Blick auf die europäischen Zahlen bestätigt das. Deutschland nahm im Januar allein 31.300 Asylbewerber auf, mit Abstand die meisten. Frankreich gerade einmal die Hälfte (15.500), Italien (8900) und Portugal (195) noch weniger. Ungarn ist das EU-Schlusslicht mit fünf aufgenommenen Asylbewerbern.  

Die Zahlen - für Sandra Kostner nicht überraschend. Sie leitet den Master-Studiengang für Integration an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.  

Sandra Kostner
Sandra Kostner | Bild: SWR

Sandra Kostner, Migrationsforscherin:  
"Wir haben ja auch eine Willkommenskultur etabliert, die wir auch sehr stark in den Vordergrund rücken. Es spielt natürlich auch eine Rolle, dass Deutschland relativ großzügig Leistungen auch an Asylsuchende gewährt und wenn einmal Migrationsbewegungen in Gang kommen, dann sind die auch nicht so einfach wieder zu unterbinden." 

Deutschland gehen die Flüchtlingselfer aus  

Und in der Folge kommen immer mehr Geflüchtete nach Deutschland. Ein Land, das längst nicht mehr so ist … wie 2015. Beispiel Flüchtlingshelfer: Damals konnte sich das Land kaum retten vor Ehrenamtlichen, jetzt fehlen sie an jeder Ecke.  

Deutschland gehen die Helfer aus. Das zeigt auch unsere Umfrage unter 52 sogenannten Helferkreisen, also Zusammenschlüssen von Ehrenamtlern, im ganzen Land. Mehr als zwei Drittel beklagen, die Zahl der Helfer sei zurückgegangen, zum Teil sogar erheblich. Auch in Dachau: 2016 gab es 956 Helfer, heute sind es nur noch 168.

Die Lage in Dachau ist inzwischen so ernst, dass selbst erfahrene Flüchtlingshelfer wie Joachim Jacob Alarm schlagen. Seit über zehn Jahren engagiert er sich, ist Vorsitzender des Bayerischen Helferverbandes. So wie jetzt geht es aus seiner Sicht nicht mehr lange gut.   

Joachim Jacob
Joachim Jacob | Bild: SWR

Joachim Jacob, Verband ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer Bayern: 
"Alles das, was sehr wichtig war und was wesentlich für die Integration war, das findet nicht mehr statt. Also die Leute bleiben sich selbst überlassen. Da liegt ein sozialer Sprengstoff, der auch nicht zu ignorieren ist."  

Die Krise wird zur Schulkrise 

Integration wird immer schwerer. Eine Schule in Schwäbisch-Hall. In der man immer wieder spürt, was das bedeutet: Matheunterricht. 5. Klasse. Der Lehrer spricht. Einige Kinder rätseln. Fast alle in dieser Klasse haben einen Migrationshintergrund. Hinzu kommen geflüchtete Kinder. Einige sprechen kaum oder gar kein Deutsch.  

Und Klassenlehrer Marco Jürgens muss das trotzdem irgendwie hinkriegen. Gar nicht so einfach.  

Marco Jürgens
Marco Jürgens | Bild: SWR

Marco Jürgens, Lehrer: 
"Sie versuchen, mit Händen und Füßen zu verstehen, was da jetzt gerade passiert, reden dann aber auf Englisch. Und irgendwann kommt dann meistens: Mister Jürgens. What did you just say?"  

Von 360 Schülern insgesamt haben laut Schulleitung etwa 80 einen erhöhten Sprachförderbedarf, darunter 40 geflüchtete Kinder. Immer wieder kommen neue dazu. Sie alle nehmen zwar an Deutschkursen teil, aber auch am regulären Unterricht. Und das stellt die Lehrer vor große Herausforderungen:  

Rita Schumann
Rita Schumann | Bild: SWR

Rita Schumann, Lehrerin: 
"Ich finde es oft so eine Ressourcenverschwendung. Zum einen: Ich als Lehrerin versuche mich abzustrampeln, dass wir das auffangen können, und auf der anderen Seite spüre ich, dass ich das nicht leisten kann. Und für die Kinder ist es ja auch so, dass ist ja auch irgendwie eine Zeitverschwendung."  

Zeitverschwendung für geflüchtete Kinder und auch für die Kinder, die gut Deutsch sprechen. Weil für sie weniger Zeit bleibt, das Lernniveau sinkt.  

Die Krise wird zur Schulkrise. Das zeigt auch eine repräsentative Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung. Im Dezember gaben 53 Prozent der Schulen an, keine Kapazität mehr zu haben, für die Aufnahme weiterer Kinder mit keinen oder geringen Deutschkenntnissen. 72 Prozent halten die personellen Mittel für unzureichend.  

Bund, Länder und Kommunen ringen um Lösungen 

Fazit: Kommunen sind überfordert, die Integration zum Beispiel an Schulen ist schwierig. Ein Land ringt um Lösungen, von denen eine komplizierter scheint als die andere. Kommunen, mittlerweile auch die Länder fordern mehr Geld vom Bund. Doch das Kanzleramt betont uns gegenüber, man habe schon viel Geld gegeben - und erklärt:  

Bundespresseamt: 
"Nach dem Grundgesetz handelt es sich um eine originäre Aufgabe der Länder und Kommunen." 

Ein Kompromiss scheint schwierig. Doch Politikern vor Ort, wie Stefan Löwl, läuft die Zeit davon.  

Stefan Löwl, CSU, Landrat Kreis Dachau: 
"Wenn hier nicht auf unsere Nöte reagiert wird, dann werden wir es irgendwann hier unten nicht mehr schaffen. Das ist keine Politik, das ist Naturwissenschaft."  

Stand: 10.05.2023 19:04 Uhr