SENDETERMIN Di., 07.03.23 | 21:45 Uhr

Ämter am Limit: Personalmangel, zu viel Bürokratie, langsame Digitalisierung

Amtsleiter bundesweit klagen über lange Bearbeitungszeiten von Anträgen aufgrund von Personalmangel und zunehmender Bürokratie: sie könnten ihrer Arbeit kaum noch gerecht werden. Für die Bürger bedeutet das zum Teil massive Verzögerung bei der Auszahlung von wichtigen Geldern, etwa dem Elterngeld oder bei Anträgen auf Grundsicherung.

Dabei sollte eine digitale Verwaltung, wie das Onlinezugangsgesetz vorsieht, vieles einfacher machen. Doch kaum ein Amt hat es umgesetzt.  

Warten vor den Ämtern in Stuttgart – stundenlang.  

Wartende:  
"Die Schlange geht jetzt mittlerweile bis ganz hinten. Gestern stand ich eineinhalb Stunden hier."  

Wartende:  
"Es sollte es so viel einfacher gehen können. Aber es ist oft ein Krampf"

Papierberge. Und Behörden am Limit:  

Sylvia Dellbrügge, Gruppenleiterin im Sozialamt: 
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Also jeder der hier arbeitet, möchte sehr gute Arbeit machen. Der sitzt hier, weil er für die Leute zeitnah das Richtige bewirken will und kriegt es nicht mehr hin."

Beitrag 

Die kleine Helena. Für sie wollte Jessica Knierim aus Kassel zuhause bleiben- ein Jahr Elternzeit mit ihrer Tochter. Doch das Elterngeld lässt Monate auf sich warten. Das Amt kaum zu erreichen.  

Jessica Knierim
Jessica Knierim, Mutter

Jessica Knierim, Mutter:   
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Der Elterngeld-Antrag hat mich sehr viele Nerven gekostet. Die Wartezeit hat mich auch wirklich sehr wütend gemacht und das geht so einfach nicht."

Erst habe sie wochenlang gar nichts vom Amt gehört, sagt sie. Dann seien Aufforderungen, Unterlagen nachzureichen, im vier Wochen Takt erfolgt. Bis der Antrag bewilligt wurde, sei fast ein halbes Jahr vergangen.   

Andere warten noch länger. Diese Alleinerziehende etwa, die nicht erkannt werden will. Sie sei dringend auf das Geld angewiesen, sagt sie uns. 

Anonyme Mutter: 
"Es fühlt sich total mies an, wenn man daran denkt, dass man ja ein Kind bekommen hat. Man will eigentlich einfach nur glücklich sein und hat aber quasi so Probleme. Und muss halt finanziell, finanziell gucken, wie man über die Runden kommt und jeder Monat für Monat - ja, man überlebt statt lebt."

Die zuständige Elterngeldstelle entgegnet, es hätten in beiden Fällen wichtige Unterlagen gefehlt. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit liege im Januar dieses Jahres bei 55 Tagen.   

Bearbeitungszeit vielerorts deutlich gestiegen   

Deutlich länger als in den Vorjahren. Das ist auch in Aachen so. Hier liegt die Bearbeitungszeit bereits bei mehreren Monaten, sagt Sozialdezernent Michael Ziemons. Täglich kämen kistenweise Neuanträge ein.   

Michael Ziemons, CDU, Sozialdezernent Städteregion Aachen:      
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Ich meine, man kann ja sehen, was da teilweise ankommt wie dick so Umschläge sind. Wie viele Akten das sind. Das muss halt erst alles eingescannt werden. Da muss jede Seite einzeln angeschaut werden, auf dem Bildschirm in die richtige Kategorie, bei der Software eingeordnet werden. Dann muss das noch jemand lesen."

Michael Ziemons ärgert das. Denn von elf Stellen seien derzeit nur sieben besetzt. Sie müssen die Papierflut stemmen. Jeden Antrag einzeln einscannen. 

Dabei sollte so etwas seit Ende letzten Jahres nicht mehr geben. Denn das Onlinezugangsgesetz verpflichtet Bund und Länder, jetzt alle Verwaltungsleistungen digital und bürgernah anzubieten. Und es gibt sogar einen digitalen Elterngeldantrag - allerdings müsse dieser im Amt aufgrund verschiedener Vorschriften noch immer als Ausdruck mit Unterschrift eingereicht werden.  

Onlinezugangsgesetz gescheitert?  

Michael Ziemons, CDU, Sozialdezernent Städteregion Aachen:   
"Das bedeutet für alle Beteiligten unnötig viel Arbeit. Und in der Regel fehlt dann ein Dokument unter all denen oder ist nicht eindeutig. Und dann schreibt man wieder hin und verlangt wieder nach und am Ende geht fünfmal Post hin und her, bevor wir den Antrag wirklich bearbeiten können."

Hans-Henning Lühr, Verwaltungswissenschaftler, Hochschule Bremen
Hans-Henning Lühr, Verwaltungswissenschaftler, Hochschule Bremen

Aus Sicht des Verwaltungswissenschaftlers Prof. Hans-Henning Lühr ist das Onlinezugangsgesetz viel zu kurz gedacht.  

Hans-Henning Lühr, Verwaltungswissenschaftler, Hochschule Bremen: 
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Man hat im Grunde genommen die klassische Bürokratie elektronifiziert und gesagt: Nicht mehr mit der Hand ausfüllen, sondern mit dem PC ausfüllen! Also da ist ja noch nichts verändert. Also das ist ja keine digitale Verwaltung. Der Füller wird durch den PC ersetzt."

Seit Januar gibt es immerhin einen bundeseinheitlichen Elterngeldantrag. Doch den haben nicht mal alle Länder umgesetzt. Und mehrere Amtsleiter kritisieren uns gegenüber, er sei aufgebläht und unübersichtlicher geworden. Ein Leiter einer Elterngeldstelle, der anonym bleiben will, kritisiert:  

Anonymer Amtsleiter:  
"Der Antrag hat jetzt inzwischen 24 Seiten - und das in sehr kleiner Schrift.  Er ist viel zu komplex. Ohne Beratung ist er für die Eltern nicht zu schaffen. Meine Mitarbeiter brauchen dafür jetzt 1,5 bis 2 Stunden, statt einer halben Stunde Beratung wie bisher."

Arbeitsbelastung stark gestiegen

Dabei klagen viele Ämter über immer mehr Arbeit. Das zeigt auch eine REPORT MAINZ Umfrage unter diversen Ämtern in den 100 größten deutschen Städten. 

Von 117 Teilnehmern geben 115 an, dass die Arbeitsbelastung in den vergangen 5 Jahren zugenommen oder stark zugenommen habe. Unter anderem wegen Gesetzesänderungen und Personalmangel. Auf die Frage “fühlen Sie oder einige Ihrer Mitarbeiter sich aufgrund der hohen Arbeitsbelastung ausgebrannt oder am Limit?” antworten 72 der Teilnehmenden mit “Ja.” Besonders angespannt ist die Situation in den Sozialämtern. 26 von 34 beantworten die Frage mit „Ja“.  

In Berlin musste im November sogar ein Sozialamt seine Türen zwei Wochen lang schließen um aufgestaute Rückstände abzuarbeiten. Diese seien Monate später noch immer nicht vollständig bearbeitet, sagt Gruppenleiterin Sylvia Dellbrügge. Und täglich kämen noch mehr Menschen, um neue Anträge abzugeben.  

Sylvia Dellbrügge, Gruppenleiterin im Sozialamt
Sylvia Dellbrügge, Gruppenleiterin im Sozialamt

Und hier in Neukölln haben sie noch nicht einmal die elektronische Akte. Sylvia Dellbrügge zeigt uns, was jeder Mitarbeiter hier an Papier-Mappen wälzen muss. Doppelt so viel wie zu schaffen wären, sagt sie.  

Sylvia Dellbrügge, Gruppenleiterin im Sozialamt: 
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Es wird wirklich als sehr, sehr, sehr bedrückend und belastend empfunden, dass auch gestandene Sachbearbeiter, die sonst mit ihrer Arbeit gut klargekommen sind, mittlerweile sagen: „Frau Dellbrügge, ich kann hier nicht mehr arbeiten.“ Da fließen auch Tränen. Also jeder der hier arbeitet, möchte sehr gute Arbeit machen. Der sitzt hier, weil er für die Leute zeitnah das Richtige bewirken will und kriegt es nicht mehr hin."

Manchmal scheitert es an Kleinigkeiten. Bei Sylvia Dellbrügge zum Beispiel kommen viele Mails zentral an- doch ihr Postfach ist so klein, dass es schnell vollläuft. Für sie heißt das: jede Mail einzeln ausdrucken, mehrere Stockwerke nach unten fahren, um sie dann den zuständigen Kollegen händisch ins Postfach zu legen. Eine absurde Situation.  

Am anderen Ende warten Menschen auf Hilfe vom Amt. So wie Marlies, die unerkannt bleiben will. Sie hat nur eine kleine Rente, und ist auf Grundsicherung angewiesen. Vier Monate habe sie auf das Geld warten müssen.  

Angst und Frust bei Bürgerinnen und Bürgern 

Marlies, Rentnerin:  
"Das hat mich ziemlich verunsichert und in Existenzängste gestürzt. Ich dachte schon immer: Wenn das so weiter geht, werde ich obdachlos. Also das wäre das Schlimmste gewesen, was ich mir hätte vorstellen können."

Matthias Bautz, Sozialberater Caritas Berlin
Matthias Bautz, Sozialberater Caritas Berlin

Zu ihm kämen immer mehr Menschen mit ähnlichen Geschichten, erzählt Sozialpädagoge Matthias Bautz von der Caritas in Berlin. Die Bearbeitungszeiten der Sozialämter würden immer länger, häufig ein halbes Jahr dauern und manchmal sogar mehr, sagt er. 

Matthias Bautz, Sozialberater Caritas:    
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So schlimm, wie es jetzt im Moment ist, war es die ganze Corona-Zeit nicht.  Die Leute machen selber schon alles richtig. Scheitern aber. Und selbst mit unserer Hilfe braucht es längere Zeit, um erfolgreich zu sein. Das ist eine wahnsinnige Frustration und Angst der Leute.2

Das Problem werde völlig unterschätzt, sagt der Verwaltungsexperte Professor Thomas Meuche. Er sieht dringenden politischen Handlungsbedarf. 

Thomas Meuche, Kompetenzzentrum Digitale Verwaltung, Hochschule Hof:  
"Die Verwaltung ist der Berührungspunkt der Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat. Und wenn die nicht funktioniert, dann ist unser Staatssystem gefährdet. Das ist die echte Gefahr, die ich sehe. Und darüber sollte sich auch die Politik mal wirklich bewusstwerden." 

Dieser Frust ist deutlich zu spüren - wie hier in Stuttgart.  Menschen stehen stundenlang vor der Ausländerbehörde und dem Bürgerbüro Schlange. Auch weil es an Personal fehlt. Die Wartezeiten teils über zwei Stunden. 

Wartende:  
"Das ganze Gebäude ist voll bis obenhin mit Menschen. Es gibt halt einen Warteraum in jedem Stockwerk, dann stehen die Leute auf dem Flur."

Wartende:  
"Mich ärgert es, dass die Stadt es nicht hinbekommt, es irgendwie besser organisiert zu bekommen. Also dass die einzige Möglichkeit ist, über zwei Monate zu warten oder halt in der Kälte der Schlange zu stehen.

Immer noch keine Vision für umfassende Digitalisierung   

Vieles müsste anders laufen – doch was in Deutschland fehle, sei ein einheitliches Digital- Konzept - findet Professor Meuche. 

Prof. Thomas Meuche, Kompetenzzentrum Digitale Verwaltung, Hochschule Hof: 
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Die Politik war offensichtlich nicht in der Lage, ein Bild über eine digitale Verwaltung zu erzeugen und zu vermitteln. Die ganze Digitalisierungsdebatte der öffentlichen Verwaltung klammert die Basis der Digitalisierung aus: Und die heißt Daten. Das heißt, wir haben unterschiedlichste Datentöpfe, die aber teilweise nicht miteinander verknüpft sind."  

Vorbild: Bremen 

Martin Hagen, B´90/Grüne, Staatsrat im Finanzressort Bremen
Martin Hagen, B´90/Grüne, Staatsrat im Finanzressort Bremen

In Bremen hat man das in Teilen sogar geschafft.  Hier können Bürger Kindergeld, Elterngeld und Geburtsurkunde mit wenigen Klicks papierlos beantragen - dafür hat man extra Gesetze angepasst. Jetzt dürfen die Ämter nach Einverständnis der Bürger Daten untereinander austauschen. Das kostete eine Menge Überzeugungsarbeit, sagt Staatsrat Martin Hagen. 

Martin Hagen, B´90/Grüne, Staatsrat im Finanzressort Bremen:
"Es sind ganz viele beteiligt. Sie brauchen den Gesetzgeber im Bund, die Bundesregierung. Sie brauchen die Bundesländer, die zustimmen. Die müssen Sie alle überzeugen."  

Technisch kann man das alles realisieren, das haben wir jetzt gezeigt. Die Hauptherausforderung ist tatsächlich, dass Sie alle dazu kriegen, dieselbe Technik miteinander zu verknüpfen.  

Das Onlinezugangsgesetz– Bremen zeigt, wie es in die richtige Richtung gehen könnte.  Doch ohne stärkere Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen wird es in Deutschland in Sachen Digitalisierung kaum vorwärts gehen.   

Stand: 08.03.2023 17:24 Uhr