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Spanien: Hungern gegen den Sparkurs

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Spanien: Hungern gegen den Sparkurs | Bild: BR
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Gestern, 16.30 Uhr in Madrid: Ángel Vadillo bezieht seinen Posten vor dem Industrieministerium. Es ist der Tag Nummer 90, an dem er sich hier im Hungerstreik befindet. 25 Kilo hat Vadillo inzwischen abgenommen. Man sieht ihm an: lange kann das nicht mehr gut gehen.

Drei Tage zuvor, am Mittwoch, hatten die Sanitäter ihn sogar kurzfristig ins Krankenhaus gebracht:

Ángel Vadillo:
"Sie haben mich eingeliefert, weil ich Herzprobleme hatte. Das hat wohl damit zu tun, dass der Körper zuerst die Kohlehydrate aufbraucht, dann das Fett und schließlich geht er an die Proteine, also an die Muskelmasse. Und das Herz ist eben auch ein Muskel."

Aber deswegen den Protest aufgeben? Das kam nicht in Frage. Vadillo kehrte mit seinem Lieferwagen vor das Ministerium zurück.
An seiner Mission hatte sich nämlich nichts geändert. Die Regierung hatte Anfang des Jahres die Subventionen für erneuerbare Energien gestrichen und damit viele Menschen in Vadillos Heimatstadt arbeitslos gemacht.

Ángel Vadillo:
"Manchmal muss man eben seine eigene Haut zu Markte tragen, um das nötige Bewusstsein für etwas Wichtiges zu schaffen. Und das ist wichtig nicht nur für mein Städtchen, sondern auch für die gesamte Region Extremadura und für Spanien."

Alburquerque in der Extremadura, 400 Kilometer westlich von Madrid – der Ort, in dem Ángel Vadillo Bürgermeister ist.
Seit Beginn seines Hungerstreiks in der Hauptstadt kamen die Menschen zusammen, um ihn und seine Aktion zu unterstützen. Jeden Morgen um Zehn waren sie hier, die Bürger des 5000-Seelen-Ortes. Auf dem Platz vor der Stadtverwaltung stärkten sie ihrem Bürgermeister den Rücken:

Ein Ort steht hinter seinem Bürgermeister

"Das, was dieser Bürgermeister für uns macht, das hat noch keiner für uns getan. Kein einziger hat so gekämpft. Alle haben immer nach der Devise gehandelt: Erst mal ich, dann ich, und dann nochmal ich. Das ist unglaublich, was für ein positives Beispiel er ist, nicht nur für unseren Ort, sondern für die gesamte Extremadura. Und im Ministerium hört keiner ihm zu."

"Er kämpft für seine Stadt. Er kämpft dafür, dass wir weiter genügend Geld haben, damit wir uns hier um die Alten und die Kinder kümmern können. Wir verlieren hier alles durch einen Federstreich. Wir werden wieder auf den Stand der 60er Jahre zurückfallen."

Die Sonne ist unerbittlich hier. Eigentlich gut, wenn man auf erneuerbare Energien und Solarstrom setzt. Wenn nicht hier, wo sonst, sagen viele Bürger von Alburquerque.
Deshalb hatten sie weitere große Anlagen geplant. Die sollten außer für grünen Strom auch für jede Menge Arbeitsplätze sorgen. Doch nachdem die Subventionen gestrichen sind, hat das Projekt keine Zukunft mehr.

Firmen gehen weg, die Bürger müssen bleiben

José Rivero ist unterwegs in seinem Unternehmen. Hier werden Sonnenkollektoren produziert. RS Solar hatte einmal 83 Angestellte. Nachdem der Minister den Rotstift angesetzt hatte, hat Rivero viele Mitarbeiter entlassen müssen. Jetzt sind hier noch 16 Menschen beschäftigt.

José Rivero, Produzent von Solarelementen:
"Es ist wirklich schade. Wir haben jede Menge investiert in diese Fabrik. Aber weil es keine Aufträge mehr gibt, mussten wir zum Beispiel die Entwicklungsabteilung zumachen. Es gibt nur noch einen Ingenieur in der gesamten Fabrik."

Diese neue Maschine hatte RS Solar extra anfertigen lassen. Eine Million Euro hat sie gekostet. Jetzt steht sie nutzlos in der leeren Fabrikhalle herum.

Verlorene Arbeitsplätze, ausbleibende Steuereinnahmen – ein echtes Drama für Alburquerque. Unternehmer Rivero wird seine Produktion demnächst nach Mexiko verlagern. Dort, sagt er, legt er wenigstens nicht noch was drauf.
Der Unternehmer kann reagieren – die Bürger, die hier leben, nicht.

Gestern, früher Abend, 18.30 Uhr: In Bussen haben sich die Menschen aus Alburquerque auf den langen Weg nach Madrid gemacht. Denn später soll es eine große Veranstaltung geben: Für erneuerbare Energien und für die Ziele des Ángel Vadillo. Es ist ein emotionales Wiedersehen: Ihr Bürgermeister ist für viele zu einem Helden geworden im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und für grüne Zukunftstechnologie.

Ein Bündnis für die Sonnenenergie

Das ist auch eine Stunde später zu spüren: Es ist ein triumphaler Einzug, den ihm die Unterstützer bei der Versammlung bereiten. Gewerkschafter, Attac, Greenpeace, Vertreter der Grünen und linker Parteien – sie alle wollen an diesem Abend einen großen Schritt voran tun. Gegen die aus ihrer Sicht verheerende Energiepolitik der konservativen Regierung beschließen sie ein Bündnis für erneuerbare Energien. Morgen schon soll es seine Arbeit aufnehmen.

Gestern Abend, kurz nach 23 Uhr:

Ángel Vadillo:
"Der Fakt, dass wir heute hier so viele Leute sind, zeigt, dass wir etwas erreicht haben. Ich werde deswegen jetzt meinen Hungerstreik abbrechen. Ich vertraue auf das neue Bündnis. Jetzt werde ich in meine Stadt fahren, nach Alburquerque. Ich brauche das wirklich dringend. Aber am Montag werde ich wieder da sein, hier in Madrid, um dabei zu sein, wenn sich das Bündnis gründet. Also, macht mit, das ist unsere Pflicht."

90 Tage lang hatte sich das Industrieministerium einem echten Gespräch verweigert. Angeblich soll Vadillo selbst das jetzt gewährt werden.
Wenn das nicht passiert, hat Vadillo schon angekündigt, dass er wieder hungern wird. "Denn", sagt er, "die müssen begreifen, dass es bei allen Reformen am Ende immer um Menschen geht."

Autor: Jörg Rheinländer / ARD Madrid

Stand: 22.04.2014 14:54 Uhr

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