Mo., 13.07.20 | 22:05 Uhr
Das Erste
Exclusiv im Ersten: Hakenkreuze und Gewaltvideos
Was Kinder posten
Die Kamera wackelt, die Farben überstrahlen – auf den ersten Blick ist die Szene nicht gleich zu fassen: Zwei Männer tänzeln wie Boxer um etwas, das auf dem Boden liegt. Den Welpen erkennt man erst, als einer der beiden ihm mit voller Wucht auf den Kopf tritt. Für Erwachsene ist dieses Video nur schwer erträglich – für Kinder einer 9. Klasse erst recht. Schülerinnen und Schüler der Waldschule Hatten bei Oldenburg haben dieses Video gesehen. Es tauchte in Schülerchats auf – versteckt hinter einem scheinbar harmlosen Link. "Ich habe das nur zur Hälfte geguckt und dann hat es mir eigentlich auch gereicht, weil ich das zu ekelhaft fand", erzählt Niklas. Und Hannah ergänzt: "Ich habe fast geheult. Ich habe selbst zwei Katzen und ich hasse das, wenn Tiere getreten werden!"
Schulleiterin Silke Müller fühlt sich hilflos: Warum wird sowas überhaupt geteilt?
Rund 800 Kinder und Jugendliche besuchen die Waldschule, eine sogenannte Digitalschule – Tablets gehören hier zum Unterricht. Und neben der technischen Ausstattung geht es Schulleiterin Silke Müller auch um einen verantwortungsvollen Umgang mit sozialen Netzwerken. Handys sind an der Schule verboten, trotzdem beschäftigt sie, was in Schülerchats geteilt wird. Denn fast täglich tauchen problematische Inhalte auf. Nicht immer sind es Gewaltvideos. Auch pornografische, antisemitische oder rechtsextreme Bildchen, sogenannte Sticker, landen in den WhatsApp-Gruppen. An vielen Schulen ist das ein Problem. Doch offen darüber sprechen will kaum jemand. Weshalb werden solche Inhalte überhaupt geteilt? "Da macht sich Hilflosigkeit breit", sagt Silke Müller. "Die Antworten fehlen mir auf ganz viele Fragen: Was ist jetzt richtig? Trotzdem sehe ich die Notwendigkeit und gebe nicht auf, weil wir noch die Möglichkeit haben, den Kindern was mitzugeben."

Nazi-Sticker, Gewalt, Pornografie: Immer wieder teilen Kinder strafbare Inhalte
Kein Einzelfall, das Problem ist allgegenwärtig in Deutschlands Schulen. Die Anwältin Gesa Stückmann aus Rostock klärt seit Jahren darüber auf, was im Netz erlaubt ist – und was nicht. Denn vielen Schülerinnen und Schülern sei nicht klar, dass Hakenkreuz und Hitlergruß strafrechtlich verfolgt werden könnten. Zwar sind in Deutschland Jugendliche erst ab 14 Jahren strafmündig, doch sie will, dass sich die Kinder frühzeitig darüber klar werden, was sie da möglicherweise verschicken: "Es reicht nicht mehr ihnen mitzugeben, ihr dürft nicht hauen, nicht klauen, nichts kaputtmachen und nicht bei Rot über die Ampel gehen, sondern die müssen das alles wissen, was wir Erwachsenen auch wissen müssen!" Technik, die eigentlich für Erwachsene gedacht sei, liege heute ja auch in Kinderhänden.

Auf ihrem Computer hat Gesa Stückmann über die Jahre gesammelt, was alles in Schülergruppen auftaucht. Das Schema der NS-Sticker ist fast immer gleich: Die Verbrechen der Nazis werden ins Lächerliche gezogen und verlieren so scheinbar den Schrecken. "Das ist einfach die Masse, die es macht", gibt Stückmann zu bedenken, "wenn man das immer öfter liest, dann sinkt einfach die Hemmschwelle."
Neuer Trend: Kinderpornografie auf Schülerhandys
Dass Hemmschwellen sinken, zeigt sich auch an einem anderen "Trend": Die Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt am Main beobachtet seit etwa drei Jahren, dass immer häufiger auch kinderpornografische Sticker auf Schülerhandys landen. Das BKA registrierte 2018 rund 1.700 Kinder und Jugendliche unter 21 Jahren, die kinderpornografische Schriften verbreitet, erworben, besessen oder hergestellt hatten. 2019 waren es knapp 4.900 – nahezu eine Verdreifachung der Fälle.
Auch in Hatten gelangte ein solches kinderpornografisches Bild in die Schülerchats. Innerhalb weniger Tage verbreitete es sich auf den Handys hunderter Schülerinnen und Schüler. Als die Sache aufflog, reagierte Schulleiterin Silke Müller sofort: Sie suspendierte die Schüler und wendete sich an die Polizei.
Warum aber hat sich keines der Kinder an die Schulleitung gewandt? "Als man das da rein geschickt bekommen hat, war es den meisten egal", erzählt Justin. Er versucht zu erklären, weshalb es für sie einen Unterschied zwischen der digitalen und der realen Welt gibt. "Man denkt da nicht 24 Stunden drüber nach: Was kann das Bild auslösen?" Und seine Mitschülerin Enya ergänzt, ein Bild sei eben nur ein Bild. Es gäbe einen Unterschied, ob man wirklich dabei war oder nicht.

Was bewegt Jugendliche dazu, solche Bilder weiterzuleiten? Nach langer Recherche an verschiedenen Schulen erklärt sich ein Schüler bereit, darüber zu sprechen. Er hatte selbst ein kinderpornografisches Bild geteilt, die Polizei ermittelte gegen ihn: "Mir war einfach nicht bewusst, dass das schlimm ist. Man war in einer eigenen Welt für sich – es ist einfach schockierend, es ist krass, es ist was Neues. Und dann hat man das Bedürfnis zu sagen: 'Guck mal! Das habe ich. Das ist krass, oder?'" Das Gespräch bei der Polizei endet für den damals 15-Jährigen mit einem Eintrag im Erziehungsregister. "Was bleibt ist die Scham", sagt er darüber, dass er nicht so reif gewesen sei, um zu sehen, dass man ein solches Bild nicht teile.
Eltern mit ins Boot holen
Auch im Kreis Verden und Osterholz tauchte ein kinderpornografisches Bild in Schülerchats auf. Bei der Polizei kümmert sich das Präventionsteam darum. Die Beamten gehen seit Jahren in Schulen und klären Kinder und Jugendliche über Gefahren im Netz auf. Aber bei der Aufklärung und Prävention sind auch die Eltern gefragt: "Ich würde mir wünschen, dass die Eltern das Handy nicht einfach nur überreichen, sondern das vorher gewisse Phänomene offensiv angesprochen werden", sagt Helge Cassens vom Präventionsteam.
Auch Schulleiterin Silke Müller will die Eltern mit ins Boot holen. Nur gemeinsam sei es möglich, den Kindern eine digitale Ethik zu vermitteln: "Dieses Kommunizieren in den sozialen Netzwerken ist ein Thema unserer Zeit und wir müssen da ran. Das ist ein Bildungsauftrag und ein Erziehungsauftrag!" Hier in Hatten hätte die ganze Sache auch positive Seiten, sagt Müller. Ihre Schülerinnen und Schüler hätten viel gelernt und seien jetzt weiter als mancher Erwachsener.
Ein Film von Dörte Petsch und Brid Roesner
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