Interview mit Regisseur Jan N. Lorenzen
Autor und Regisseur von "Kinder des Krieges – Deutschland 1945"

ARD: Der Film "Kinder des Krieges" erzählt das Jahr 1945 aus der Perspektive der Kinder. Was ist der Grund für diese Perspektive?
Jan N. Lorentzen: Kinder sind immer Opfer. Sie müssen nichts verstecken, sie müssen sich nicht rechtfertigen, sie erzählen was ihnen passiert ist. Zugleich sind sie gute Beobachter: Beobachter der Gesellschaft und zugleich ihrer Eltern. Gerade beim Thema Nationalsozialismus macht dies neue und erstaunliche Einblicke möglich. Außerdem sind die Kinder von damals, jetzt 75 Jahre nach dem Kriegsende, die letzten Zeitzeugen. Noch gibt es Menschen, die von damals berichten können, die Kinder des Krieges.
Wie ist die Entscheidung für die konkreten Protagonistinnen und Protagonisten gefallen? Und wie habt Ihr sie gefunden?
Bei der Suche nach den Zeitzeugen ging es zunächst einmal darum, die unglaubliche Vielfalt des Schreckens, die das Jahr 1945 nun einmal ausmacht, erzählbar zu machen. Es ging darum, die Angst der Kinder in den Bombenkellern abzubilden, den Schrecken und Hunger auf der Flucht einzufangen, sexuelle Übergriffe von Soldaten auch gegenüber Mädchen zu thematisieren, aber auch ein aus einem KZ befreites Kind zu Wort kommen zulassen.
Dazu kam in den Vorüberlegungen die regionale Vielfalt. Wie das Kriegsende erlebt wurde, war im Westen und im Osten vollkommen unterschiedlich. Auch in der Oberpfalz und in Hamburg. Diese regionalen Unterschiede sollten deutlich werden. Wie unterschiedlich das Jahr 1945 in ganz Deutschland erlebt wurde, auch darum ging es bei der Auswahl der Zeitzeugen.
Eine die Suche nach Protagonisten leitende Frage war zudem, wie die Kinder auf den Zusammenbruch des Systems reagiert haben, an das sie selbst, aber auch ihre Eltern viele Jahre geglaubt hatten. Welche Ereignisse in ihrem kindlichen, jugendlichen Erleben, haben ein Umdenken bewirkt? Das war eine Frage, die ich stellen wollte. Wer war bereit, darüber und über die Verstrickung der Eltern mit dem Nationalsozialismus zu sprechen?
Auf welche Erinnerungen bist Du gestoßen?
Bei allem, was ich bereits über das Jahr 1945 wusste, hat mich die Brutalität der Erlebnisse doch sehr überrascht. Dass Kinder in den Ruinen gespielt haben, dabei auf Munition gestoßen sind und sich schwer verletzt haben, ist bekannt. Dass aber dann der Arzt die nötige Operation verweigert, weil er dem alten nationalsozialistischen Glauben anhängt, "Krüppel" hätten kein Lebensrecht, hat mir, die Tränen in die Augen getrieben. Alois Schneider aus Ensdorf bei Saarbrücken hat dies so erlebt.
Eine weitere, erschütternde Begegnung war das Treffen mit Brigitte Rossow aus Demmin, die davon erzählt, wie ihre eigene Mutter ihr beim Einmarsch der sowjetischen Armee die Pulsadern aufschnitt – offenbar aus Angst vor Übergriffen. In Demmin war das Anfang Mai 1945 kein Einzelfall. Das Totenbuch der Stadt verzeichnet unter anderem den Tod eines 11 Monate alten Mädchens, das vom eigenen Großvater erwürgt wurde. Ich könnte mittlerweile viele Geschichten dieser Art erzählen – und einige erzählen wir in unserem Film.
Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen diesen Erinnerungen?

Ja, es gibt große Gemeinsamkeiten – und große Unterschiede. Erst einmal fällt auf, dass die Protagonisten auf ähnlich schreckliche Erlebnisse vollkommen unterschiedlich reagiert haben. Die einen sind von einem Ereignis vollkommen aus der Bahn geworfen worden, die anderen haben mit erstaunlicher psychischer Widerstandskraft reagiert. Nicht immer nur eine Frage des Alters! Eine offensichtliche und mich zugleich überraschende Gemeinsamkeit war, dass die Protagonisten fast ohne Ausnahme bereits unmittelbar 1945 in eine aktive gedankliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit der eigenen Sozialisation etwa als Hitlerjunge oder BDM-Mädchen getreten sind – also viel früher, als ihre Eltern, die manchmal Jahre oder Jahrzehnte dazu gebraucht. Die Kinder waren es, die die Eltern in eine Auseinandersetzung verwickelt haben. „Später habe ich mich geschämt“, war einer der am häufigsten gesagten Sätze in den Interviews.
Wie gut und wie präsent sind die Erinnerungen noch heute?
Möglicherweise sind viele Erlebnisse über Jahrzehnte verdrängt worden, doch in den Interviews wirkten die Ereignisse von damals sehr präsent und erstaunlich präzise. Ein Protagonist, der 1945 seinen Vater verlor, erzählt, dass der Wunsch, der Vater würde mit seinen Stiefeln plötzlich in der Tür stehen, in den letzten Jahren wieder stärker geworden ist. Zugleich war mein Eindruck, dass die Erinnerungen meiner Protagonisten stark von einem einzigen traumatischen Erlebnis geprägt sind, das bis in alle Einzelheiten erinnert wird, während viele andere Dinge, die in dem Jahr auch passiert sein müssen, wirklich vergessen sind. Der erste Schulbesuch nach dem Krieg – vergessen, weil die eigene Verwundung, der Verlust der Eltern, der Anblick von Leichen alles Erinnern überlagert.
Sind die Erinnerungen oft erzählt oder sind die Fragen, die Du nun gestellt hast, welche, die den Protagonistinnen und Protagonisten sonst so in Familien nicht gestellt werden?
Ich hatte schon den Eindruck, dass die Kriegskinder von damals in ihren Familien von ihren Erlebnissen erzählt haben. Aber hier geht es um etwas Anderes. Das Fernsehen kommt und interessiert sich und schenkt dem vor 75 Jahren erfahrenen Schmerz Beachtung. Das was sie erlebt haben, geht uns alle an. Das ist mit einer Familienerzählung nicht vergleichbar. Ich habe gespürt und glaube auch, dass die Zuschauer das spüren werden, mit welcher großen Offenheit sie von ihrem Erleben erzählt haben. Da wird nicht hinterm Berg gehalten. Das ist schonungslos.
75 Jahre sind seit den Erlebnissen vergangen, wie stellt man als Filmemacher sicher, dass das, was die Protagonistinnen und Protagonisten erinnern auch tatsächlich so geschehen ist?
Private Erzählungen können wir nicht bis in jedes Detail überprüfen. Aber natürlich ist es unsere Pflicht, das Geschilderte einer Gegenprüfung durch alle verfügbaren historischen Quellen, Dokumente, Fotos usw. zu unterziehen. Wenn uns ein Protagonist von der Hinrichtung italienischer Zwangsarbeiter, die er in Hildesheim mitangesehen hat, erzählt, überprüfen wir selbstverständlich, ob es diese Hinrichtung gegeben hat, auch ob die Details der Erzählung mit den anderen Quellen übereinstimmen. Das ist selbstverständlich.
Gab es für Dich einen besonders bewegenden Moment?
Ich möchte keinen herausgreifen. Es hat viele sehr bewegende Momente bei den Dreharbeiten gegeben.
90 Minuten scheinen lang, sind es letztlich aber wahrscheinlich gar nicht, von welchem Aspekt bedauerst Du, dass er nicht im Film ist?
Wir haben ein Interview gedreht mit Gisela Jäckel aus Wetzlar. Von den Nazis als „Halbjüdin“ eingestuft, ist ihr damals als 10-jähriges Mädchen von den Nachbarn der Einlass in den Luftschutzbunker verwehrt worden. Diese Geschichte erzählen wir im Film. Nicht mehr erzählen konnten wir, dass sie nach der Befreiung in Wetzlar eine Außenseiterin blieb, bis sie sich mit einem sudetendeutschen Flüchtlingsmädchen, ebenfalls eine Außenseiterin, anfreundete. Sie ist zunächst in die Gemeinschaft der Flüchtlinge aufgenommen worden, hat Egerländer Tracht getragen und nur über diesen Umweg hat sie wieder Zugang in die deutsche Mehrheitsgesellschaft gefunden. Dieser Prozeß hat über mehrere Jahre gedauert.
Das Interview führte Rolf Bergmann (RBB)
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