Faktencheck zu "maischberger"
Sendung vom 05.10.2022
Faktencheck

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.
Und das schauen wir uns an:
- Wie wahrscheinlich ist ein russischer Atomschlag?
Wie wahrscheinlich ist ein russischer Atomschlag?
Mit dem CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen und der Linken-Fraktionsvorsitzenden Amira Mohamed Ali sprachen wir über den aktuellen Kriegsverlauf in der Ukraine. In diesem Zusammenhang diskutierten wir auch die Möglichkeit einer nuklearen Eskalation durch die russische Armee. Röttgen erklärte dieses Szenario aus diversen Gründen für sehr unwahrscheinlich, während Mohamed Ali zu bedenken gab, dass Putin nicht rational handele und also auch ein Nuklearschlag nicht auszuschließen sei. Welche Szenarien denkbar sind und wie Experten die Gefahr einschätzen, schauen wir uns hier noch einmal genauer an.
Röttgen: "Ich halte es für keine realistische Option von Putin, Nuklearwaffen einzusetzen. Denn was wären die Folgen? Sie wären alle desaströs für ihn. Die erste Folge wäre, dass er international völlig isoliert wäre. China hat ihm ganz sicher eine klare Ansage gemacht: ohne mich. Indien: ohne uns. Er wäre völlig isoliert und damit auch völlig verloren."
Maischberger: "Deswegen glauben Sie, er wird es nicht tun."
Röttgen: "Zweitens: das russische Volk. Die Teilmobilmachung ist ja ein Teil der Schwäche. Die Menschen laufen doch weg vor Putin. Die, die Kanonenfutter werden sollen, wenn das nicht mehr die ethnischen Minderheiten am Rande des russischen Reiches sind. Er hat jetzt den Krieg zu den Russen geholt, und die Russen laufen weg. Die Russen wollen diesen Krieg sowieso nicht. Und sie wollen erst recht nicht in einen Atomkrieg verstrickt werden. Und drittens, bin ich auch ganz sicher, haben die Amerikaner eine sehr klare Ansage gemacht, ohne sie näher zu konkretisieren, dass, wenn es zu diesem Tabubruch käme, es eine klare militärische Antwort mit großer Schadenswirkung in Russland geben würde. Und darum: militärisch, politisch, wirtschaftlich macht dieser Einsatz überhaupt keinen Sinn."
(…)
Mohamed Ali: "Ich hoffe ja, dass es so ist. Aber ich persönlich habe gar nicht die Einschätzung, dass Wladimir Putin ein so vernünftiger Mensch ist. Ich finde, was er da macht, zeigt eher, dass er eher ein unvernünftiger Mensch ist. Und deswegen habe ich die Sorge schon, dass er auch unvernünftig handelt. Ich finde, man kann nicht auf der einen Seite feststellen, dass Putin in der Tat unvernünftige Handlungen vornimmt, das muss man ja nun mal feststellen, er ruiniert Russland zum Teil."
Röttgen: "Er ist menschenverachtend und brutal. Aber nicht irrational."
Mohamed Ali: "Absolut. Er ruiniert zum Teil auch Russland. Das sieht man. Und dann zu sagen, ich schließe aus, dass dieser Mann Atomwaffen einsetzt – ich finde, das kann man nicht."
Stimmt das? Wie wahrscheinlich ist ein russischer Atomwaffeneinsatz?
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Präsident Wladimir Putin wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Zuletzt betonte er im Zuge der Teilmobilmachung am 21. September: "Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen. Dies ist kein Bluff." Diese Aussage gewinnt aktuell an Brisanz, nachdem Putin am gestrigen Mittwoch (5.10.22) das Gesetz zur völkerrechtswidrigen Annexion der vier ukrainischen Gebiete Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk unterzeichnet hat. Aus Sicht des Kreml handelt es sich bei diesen Regionen also fortan um russisches Territorium. Zwar erkennen die NATO-Partner die Annexion nicht an, doch in der Logik der russischen Regierung lassen sich die Vorstöße der ukrainischen Armee zur Befreiung der besetzten Gebiete künftig als Angriff auf russisches Staatsgebiet interpretieren. Das unterstrich zuletzt auch der Kremlsprecher Dmitri Peskow gegenüber der Nachrichtenagentur Nexta. Diese Argumentation ist insofern brisant, als dass die russische Nukleardoktrin einen Einsatz von Atomwaffen "im Falle einer Aggression gegen Russland mit konventionellen Waffen, wenn die Existenz des Staates selbst bedroht ist" rechtfertigt.
Trotzdem halten viele Fachleute das Risiko eines russischen Atomschlages derzeit für eher niedrig – es steige aber mit dem militärischen und politischen Druck, unter dem Russland sich befinde. Sollte es zum Äußersten kommen, wird die Nutzung einer oder mehrerer taktischer Atomwaffen als am wahrscheinlichsten erachtet. Diese sind auf ein bestimmtes Areal und für eine begrenzte Wirkung auf dem Schlachtfeld ausgelegt, im Gegensatz zu strategischen Atomwaffen, die über eine ungleich höhere Sprengkraft verfügen und nicht auf dem Gefechtsfeld eingesetzt werden. "Die russischen taktischen Nuklearwaffen, von denen es vermutlich zwischen 2000 und 2200 gibt, sind in der Sprengwirkung skalierbar von einer Kilotonne TNT bis zehn Kilotonnen TNT", erklärte der Osteuropa-Experte Gerhard Mangott kürzlich in einem Interview mit tagesschau.de. Zum Vergleich: Über Hiroshima und Nagasaki wurden Atombomben mit einer Sprengkraft von 13 bzw. 21 Kilotonnen TNT abgeworfen. Demnach würde auch der Einsatz einer taktischen Zehn-Kilotonnen-Nuklearwaffe durch Russland je nach Detonationsort erhebliche Zerstörungen bewirken. Fachleute gehen in diesem Fall von einem Zerstörungsradius von 1,6 Kilometern aus. Die Überlebenschancen sind in diesem Umkreis äußerst gering. Hinzu kommt die Strahlenbelastung des attackierten Gebiets, die sich je nach Sprengkraft über Jahre halten kann. Erde und Wasservorkommen werden von der Explosion radioaktiv verseucht.
Aktuell zielten Putins Äußerungen aber weiterhin auf die Verunsicherung der westlichen Gesellschaften, erklärt Experte Mangott im tagesschau.de-Interview: "Einen Einsatz halte ich derzeit zwar für nicht sehr wahrscheinlich, weil Russland trotz militärischen Rückschlägen noch keine klare militärische Niederlage droht. Wenn diese aber Gestalt annehmen könnte, dann halte ich es zunächst für möglich, dass Russland explizit eine Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen macht – bis jetzt wurde das ja nur implizit angekündigt." In diesem Fall sei zunächst ein Test einer taktischen Nuklearwaffe denkbar: "Das wäre eine Detonation, entweder in einem Testgelände auf russischem Gebiet, wie zum Beispiel in Kamtschatka, oder eine Detonation im Schwarzen Meer oder in der Luft über dem Schwarzen Meer, um noch deutlicher an die Ukraine und den Westen zu signalisieren: Einstellung der Kampfhandlungen jetzt, oder es kommt zu massivem Nuklearwaffen-Einsatz."
Der Militärexperte Carlo Masala bewertet das Risiko ähnlich. Sollte Putin militärisch mit dem Rücken zur Wand stehen, könnte er zu einem nuklearen Abschreckungsmanöver greifen, erklärte Masala gegenüber dem "stern": "Dann reden wir möglicherweise auch von einem sogenannten Demonstrationsschlag, das heißt dem Einsatz einer taktischen Atomwaffe nicht als Gefechtsfeldwaffe, sondern in großer Höhe – Experten sagen: über der Ostsee oder über dem Schwarzen Meer –, um letzten Endes die westlichen Gesellschaften davon abzuschrecken, die Unterstützung der Ukraine weiterhin aufrechtzuerhalten."
Der dänische Rüstungsexperte Hans Møller Kristensen gibt indes – ähnlich wie Norbert Röttgen in der Sendung – zu bedenken, dass Russland sich durch einen Atomschlag international vollständig isolieren würde. "Nach einem Atomwaffeneinsatz wäre Putins Russland der absolute Paria der internationalen Gemeinschaft. Auch wichtige Partner wie China und Indien könnten sich von Putin abwenden", so Kristensen gegenüber der "Frankfurter Rundschau". Indiens Premierminister Narendra Modi hatte bereits Mitte September Kritik an Putins Krieg gegen die Ukraine geäußert. "Heute ist keine Ära des Kriegs", so Modi gegenüber dem russischen Präsidenten. Experte Gerhard Mangott weist zudem darauf hin, dass "auch viele andere Staaten im afrikanischen, arabischen, lateinamerikanischen oder südostasiatischen Raum" den Einsatz von Atomwaffen klar verurteilen könnten. Die politischen Risiken für Putin wären also ungemein groß.
Fachleute betonen außerdem, dass nicht Putin allein einen Nuklearschlag auslösen könnte. Formal gesehen entscheidet zwar ausschließlich der Präsident als Oberkommandierender der Streitkräfte über den Einsatz nuklearer Waffen, doch laut Geheimdienstinformationen soll Russland – ähnlich wie die USA – mit dem System der Atomkoffer arbeiten. Einen hat Putin, einen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und einen weiteren Generalstabschef Walerij Gerassimow. Nur wenn aus allen drei Koffern ein Code weitergegeben wird, kann auch ein Abschuss von Atomwaffen befehligt werden. Diesen Aspekt unterstreicht auch Rüstungsexperte Hans Møller Kristensen: "Putin muss sich auf andere Personen in der militärischen Kommandokette verlassen, die seinem Befehl Folge leisten. Eine dieser Personen könnte den Mut aufbringen, eine Entscheidung Putins zu blockieren." Eine Befehlsverweigerung könne z.B. damit begründet werden, dass der Präsident nicht mehr Herr seiner Sinne sei und in größenwahnsinniger Weise einen Atomkrieg anzettele. Fest steht: "Putin hat keinen roten Knopf an seinem Schreibtisch im Kreml, auf den er drückt, um damit atomar bestückte Interkontinentalraketen oder nukleare Gefechtsfeldwaffen zu starten."
Fazit: Mit dem CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen und der Linken-Fraktionsvorsitzenden Amira Mohamed Ali diskutierten wir über einen möglichen Einsatz von Nuklearwaffen durch Russland im Krieg gegen die Ukraine. Röttgen erklärte dieses Szenario aus diversen Gründen für sehr unwahrscheinlich, während Mohamed Ali zu bedenken gab, dass Putin nicht rational handele und also auch ein Nuklearschlag nicht auszuschließen sei. Die russische Regierung droht seit Beginn des Krieges immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen, zuletzt bei der Verkündung der Teilmobilmachung. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion von vier ukrainischen Gebieten erscheinen diese Drohungen nun in neuem Licht, weil die russische Nukleardoktrin einen Einsatz von Atomwaffen im Falle eines Angriffs gegen russisches Staatsgebiet rechtfertigt. Fachleute nehmen das Risiko eines russischen Atomschlages zwar ernst, halten es aber derzeit immer noch für eher niedrig. Putin nutze die nukleare Drohung weiterhin primär zur Einschüchterung der westlichen Staaten, so die mehrheitliche Expertenmeinung. Sollte Putin jedoch militärisch mit dem Rücken zur Wand stehen, könnte das Risiko eines taktischen Nuklearschlags deutlich steigen. Ein solcher wäre aber wohl gleichbedeutend mit der vollständigen internationalen Isolation Russlands. Nach Geheimdienstinformationen kann Putin allein übrigens keinen Nuklearschlag auslösen. Demnach wäre er auf mindestens zwei weitere Personen in der militärischen Kommandokette angewiesen.
Stand: 06.10.2022
Autor: Tim Berressem