Faktencheck zu "maischberger"
Sendung vom 19.10.2022
Faktencheck

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.
Und das schauen wir uns an:
- Wie hoch ist der Anteil der Windkraft an der Energieversorgung in Deutschland?
Wie hoch ist der Anteil der Windkraft an der Energieversorgung in Deutschland?
"Welt"-Herausgeber Stefan Aust und "taz"-Journalistin Ulrike Herrmann diskutierten in unserer Sendung u.a. über Deutschlands Fortschritte bei der Energiewende. Aust sagte, die vollständige Versorgung einer Industrienation mit erneuerbarer Energie sei unrealistisch. In diesem Zusammenhang führte er an, dass etwa die Windkraft derzeit lediglich 3,5 Prozent der deutschen Primärenergie ausmache. Ulrike Herrmann sprach von einem Anteil von 4,7 Prozent des Endenergieverbrauchs. Was es mit diesen unterschiedlichen Begriffen auf sich hat und wie hoch der Anteil der Windenergie tatsächlich ist, schauen wir uns hier noch einmal genauer an.
Aust: "Ich glaube, es ist eine totale Illusion zu glauben, dass man ein Industrieland mit erneuerbaren Energien auf irgendeine Weise versorgen kann. Das ist einfach nicht möglich. Und wenn Sie sich die jetzigen Zahlen angucken, ich habe mir das gerade mal wieder angeguckt. Ich meine, von der Windenergie, das sind gerade mal 3,5 Prozent der Primärenergie, die wir herstellen mit knapp 30.000 Windrädern. Das heißt, wenn wir zehnmal so viel haben wollten, also sagen wir mal 35 Prozent Primärenergie aus Wind, dann brauchen wir 300.000. Wissen Sie, wie viel Quadratkilometer Fläche die Bundesrepublik Deutschland hat? Ungefähr 360.000. Das heißt, dann haben wir pro Quadratkilometer ein Windrad. Good Luck! Das ist pure Illusion."
Hermann: "Wo ich Ihnen Recht gebe, ist, dass es im Augenblick so ist, dass die Windkraft nur 4,7 Prozent des Endenergieverbrauches ausmacht."
Aust: "Nein. 3,5. Ich kann es Ihnen genau zeigen."
Herrmann: "Ja, des Primärverbrauchs, aber das ist nicht die wichtige Zahl, sondern der Endenergieverbrauch ist die zentrale Zahl. Aber ist ja egal. Und dass wir noch sehr viele Windräder aufstellen müssen, ist auch richtig. Nur, die Alternative ist ja keine Alternative, die Sie beschreiben. Wir können nicht einfach weiter fossile Energie verbrauchen, weil wir dann die Welt aufheizen, bis man nicht mehr auf ihr leben kann."
Stimmt das? Wie hoch ist der Anteil der Windkraft an der Energieversorgung in Deutschland?
Wie sich bereits in der Sendung gezeigt hat, ist in dieser Frage eine klare Begriffsunterscheidung notwendig. Stefan Aust sprach vom Anteil der Windkraft am gesamten Primärenergieverbrauch in Deutschland. Als Primärenergie bezeichnet man der Definition nach den Energiegehalt eines natürlich vorkommenden Energieträgers. Primärenergieträger sind Energieträger, die noch nicht weiterverarbeitet wurden – beispielsweise Stein- und Braunkohle, Erdöl, Erdgas oder auch Sonnenenergie, Windkraft, Wasserkraft, Erdwärme und Gezeitenenergie. Damit die vorhandene Energie aber für Industrie und Verbraucher nutzbar werden kann, muss sie umgewandelt und manchmal auch über weite Strecken transportiert werden. Dabei geht ein gewisser Anteil der Energie verloren. Die komplett umgewandelte Energie, die dann in Form von Strom, Wärme oder Kraftstoffen genutzt werden kann, wird auch als Endenergie bezeichnet. Auf diese Größe bezog sich Ulrike Herrmann in unserer Sendung.
Laut Erhebungen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen (AGEB) belief sich der Primärenergieverbrauch in Deutschland 2021 auf insgesamt 12.265 Petajoule. Der Großteil wurde dabei von den fossilen Energieträgern Mineralöl (32,3 Prozent), Erdgas (26,8 Prozent) sowie Braun- und Steinkohle (zusammen 17,7 Prozent) abgedeckt. Die erneuerbaren Energien machten zusammen genommen einen Anteil von 15,9 Prozent aus. Isoliert betrachtet kam der Windenergie dabei ein Anteil von 3,3 Prozent zu – also sogar noch etwas weniger als von Stefan Aust in der Sendung beziffert. Bedeutendster Energieträger unter den Erneuerbaren ist mit 8,6 Prozent die Biomasse.
Beim Endenergieverbrauch deckten die erneuerbaren Energien im Jahr 2021 laut Arbeitsgruppe Erneuerbare Energien-Statistik (AGEE-Stat) etwa 19,7 Prozent (467,3 Terawattstunden) ab. Die Windkraft allein steuerte rund 113,8 Terawattstunden bei, was etwa den 4,7 Prozent am Gesamtverbrauch entspricht, die Ulrike Herrmann in der Sendung anführte. Insgesamt ist die Biomasse aufgrund ihrer vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten auch hier mit einem Anteil von knapp 11 Prozent der wichtigste erneuerbare Energieträger.
Wie oben bereits erläutert, berücksichtigt der Endenergieverbrauch bereits die Energieverluste, die bei Weiterverarbeitung und Transport anfallen – im Gegensatz zum Primärenergieverbrauch. Dieser Verlust wird mathematisch durch den sogenannten Primärenergiefaktor angegeben. Je niedriger der Faktor, desto geringer der Energieverlust. Erneuerbare Energieträger erreichen unter Idealbedingungen einen Faktor Null, ihre Energie kommt dann also ohne Verlust beim Endverbraucher an. Bei fossilen Energien ist das schlicht unmöglich. Um diesen Vorteil der Erneuerbaren abzubilden, konzentriert sich die öffentliche Debatte häufig auf den Endenergieverbrauch, wie es auch Ulrike Herrmann in der Sendung tat.
Wie viele Windräder in der Bundesrepublik aufgestellt werden müssen, um einen größtmöglichen Beitrag zur Klimaneutralität zu erzielen, wird immer wieder kontrovers diskutiert. Unser Studio-Gast Stefan Aust hat die derzeitige Anzahl der Windräder korrekt mit 30.000 angegeben. Richtig ist auch, dass die Fläche der Bundesrepublik Deutschland knapp 360.000 Quadratkilometer beträgt (genau sind es 357.588 Quadratkilometer). Stefan Aust stellte die Rechnung auf, dass man die Anzahl der Windräder verzehnfachen müsste, um den Anteil der Windkraft am Primärenergiebedarf zu verzehnfachen. Dies, so Aust, führe dazu, dass auf jedem Quadratkilometer ein Windrad stehen müsse. Geht man von einem streng proportionalen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Windräder und der erzeugten Energie aus, kann man zu diesem Schluss kommen. Unter Experten wird dieser streng proportionale Zusammenhang allerdings stark bezweifelt. Grund ist vor allem die technische Weiterentwicklung auf dem Windkraft-Sektor. Die Berliner Denkfabrik Energy Watch Group geht in einem aktuellen Szenario sogar davon aus, dass nach einer entsprechenden Nachrüstung bestehender Anlagen bis 2030 lediglich 24.000 Windräder nötig sein könnten, um Deutschland in allen Energiesektoren (Strom, Wärme, Verkehr, Industrie) mit 100 Prozent erneuerbaren Energien zu versorgen.
Fazit: "Welt"-Herausgeber Stefan Aust sagte in der Sendung, die vollständige Versorgung Deutschlands mit erneuerbarer Energie sei unrealistisch. In diesem Zusammenhang führte er an, dass die Windkraft derzeit lediglich 3,5 Prozent der deutschen Primärenergie ausmache. "taz"-Journalistin Ulrike Herrmann sprach von einem Anteil von 4,7 Prozent des Endenergieverbrauchs. Tatsächlich haben beide Recht. Entscheidend ist die Differenzierung der Begriffe. Als Primärenergie bezeichnet man der Definition nach den Energiegehalt eines natürlich vorkommenden Energieträgers vor der Weiterverarbeitung. Der Endenergieverbrauch berücksichtigt dagegen die Energieverluste, die bei der Weiterverarbeitung der Primärenergie auftreten. Um die überaus geringen Verluste der Erneuerbaren abzubilden, konzentriert sich die öffentliche Debatte häufig auf den Endenergieverbrauch. Unter Experten gilt die vollständige Versorgung Deutschlands mit erneuerbarer Energie übrigens als durchaus realistisch. Angesichts enormer Fortschritte in der Windkrafttechnologie könnte die Anzahl der Windräder sogar gleich bleiben, wenn nicht sogar sinken, wie aktuelle Erkenntnisse nahelegen.
Stand: 20.10.2022
Autor: Tim Berressem