Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 18.04.2023

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Michael Bröcker, Sabine Rennefanz, Jörg Pilawa, Friedrich Merz, Daniela Schwarzer
Die Gäste (v.l.n.r.): Michael Bröcker, Sabine Rennefanz, Jörg Pilawa, Friedrich Merz, Daniela Schwarzer | Bild: WDR / Oliver Ziebe

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Ist nach dem Atomausstieg der Import von Kohlestrom aus Polen sprunghaft gestiegen?

Ist nach dem Atomausstieg der Import von Kohlestrom aus Polen sprunghaft gestiegen?

CDU-Chef Friedrich Merz kritisierte in unserer Sendung den Ausstieg aus der Atomenergie, den Deutschland unlängst vollzogen hat. Dieser Schritt habe vor allem auch negative Auswirkungen auf die Klimabilanz des deutschen Strommixes. Bereits am ersten Tag nach dem Ende der Kernenergie sei der Import von Kohlestrom aus Polen sprunghaft angestiegen, behauptete Merz.  

Nach dem Atomausstieg: Sind Stromimporte aus Polen gestiegen? | Video verfügbar bis 18.04.2024

Maischberger: "Haben Sie Sorge vor Stromausfällen wegen dieser – wie viel sind’s? – sechs Prozent [Atomstrom], die jetzt fehlen?"

Merz: "Naja, also, wir haben ja schon starke Schwankungen im Stromnetz ohnehin in den letzten Monaten gesehen. Und wir nehmen jetzt ohne Not aus rein politischen Gründen, man kann auch sagen, aus ideologischen Gründen, drei sichere, CO2-freie Kernkraftwerke vom Netz, im letzten Jahr zwei. Wir hätten im Grunde genommen fünf, die wir noch hätten weiterbetreiben können. Auf der Welt sind zurzeit 400 Atomkraftwerke in Betrieb, 60 neue werden zurzeit gebaut. Die einzigen, die aussteigen mitten in der größten Energiekrise, die wir seit den Siebzigerjahren haben, sind die Deutschen. Und dafür werden wir einen Preis zahlen. Übrigens, man konnte das schon im Vergleich der Sonntage sehen. Jetzt an diesem Sonntag ist der Import von Kohlestrom aus Polen sprunghaft gestiegen. Wir werden in Deutschland Kohlekraftwerke wieder ans Netz nehmen müssen, und zwar ziemlich lange, damit das ganze einigermaßen stabil bleibt."

Stimmt das? Ist nach dem Atomausstieg der Import von Kohlestrom aus Polen sprunghaft gestiegen?

Zum 15. April 2023 wurden die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet. Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg), Isar 2 (Bayern) und Emsland (Niedersachsen) gingen vom Netz. Ursprünglich sollte dies schon zum 31. Dezember 2022 geschehen, auf Grund der angespannten Versorgungslage in Folge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine beschloss die Bundesregierung jedoch, die letzten drei Meiler im Rahmen eines Streckbetriebes bis Mitte April weiterlaufen zu lassen. Dieser Streckbetrieb endete nun. Doch was bedeutet das für die Energieversorgung in Deutschland? 

Im Jahr 2022 produzierten die verbliebenen Atomkraftwerke insgesamt knapp 35 Terawattstunden Strom. Laut Statistischem Bundesamt entsprach das einem Anteil von sechs Prozent an der Bruttostromerzeugung in Deutschland. Im Januar und Februar 2023 habe der Anteil der Kernkraft sogar nur noch bei vier Prozent gelegen, teilte der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft mit.

Neben den sechs Prozent Kernenergie machten Braun- und Steinkohle 2022 einen Anteil von gut 31 Prozent am Strommix aus, beim Gas waren es knapp 14 Prozent. Die Erneuerbaren Energien trugen mit 44 Prozent am meisten bei. Davon entfielen rund 22 Prozent auf Windkraft, 10,5 Prozent auf Photovoltaik und 7,7 Prozent auf Biomasse

Seit 2003 verbraucht Deutschland weniger Strom als es erzeugt. Der europäische Strommarkt ermöglicht es, dass dieser Überschuss in andere Länder exportiert werden kann. Umgekehrt gilt: Wenn es in Deutschland zeitweise zu einem Stromdefizit kommt, kann automatisch importiert werden. Ein solches Defizit kann regional zum Beispiel entstehen, wenn kein Wind weht und gleichzeitig wegen fehlendem Sonnenlicht wenig Solarstrom produziert wird. Deutschland hat direkte Stromverbindungen in elf Länder – alle neun Nachbarländer sowie Norwegen und Schweden über Seekabel. Insgesamt hat Deutschland im Jahr 2022 72,7 Terawattstunden exportiert und 45,2 Terawattstunden importiert. Das macht einen Nettoexport von 27,5 Terawattstunden

Laut Bundesnetzagentur stammten die höchsten Nettostromimporte 2022 aus Dänemark (10,29 Terawattstunden). Am wenigsten Strom wurde aus Polen (0,96) und den Niederlanden (0,37) eingekauft. 

Zur besseren Einordnung: In Deutschland wurden 2022 insgesamt etwa 483,9 Terawattstunden Strom verbraucht, wie die Bundesnetzagentur ermittelte.

Friedrich Merz hat Recht, wenn er sagt, dass am vergangenen Sonntag (16.4.23) deutlich mehr Strom aus Polen importiert wurde als am Sonntag zuvor (9.4.23). Laut Angaben der Denkfabrik Agora Energiewende wurden am 16.4.23 über den Tag verteilt etwa 22 Gigawattstunden (= 0,022 Terawattstunden) aus Polen importiert. Gemessen an den Gesamtimporten dieses Tages entspricht das etwa 16 Prozent. Am 9.4.23 waren es noch 6 Gigawattstunden (10 Prozent der Gesamtimporte). 

Doch ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Wegfall der Kernenergie und gestiegenen Stromimporten aus Polen lässt sich über einen so kurzen Zeitraum nicht belegen. So beliefen sich die polnischen Importe am 14.4.23 – also vor dem Herunterfahren der deutschen Atomkraftwerke – auf rund 16 Gigawattstunden, was ebenfalls etwa 16 Prozent der gesamten Stromimporte an diesem Tag entsprach. Grundsätzlich unterliegt der europäische Strommarkt häufigen und von diversen Faktoren beeinflussten Schwankungen, manchmal sogar stundenweise. Am 3.4.23 speiste Deutschland 19 Gigawattstunden aus Polen ein, was am Ende des Tages die Zahl der Nettoimporte (also unter Berücksichtigung der Exporte, u.a. auch nach Polen) sogar überstieg. Wie sich der Wegfall der Kernenergie also genau auf den Strommarkt auswirkt, wird man für eine fundierte Einschätzung über einen längeren Zeitraum beobachten müssen.

In Polen macht die Verbrennung von Kohle zur Strom- und Wärmeerzeugung den europaweit größten Anteil am Strommix aus. Rund 73 Prozent des erzeugten polnischen Nettostroms wurden 2022 durch das Verbrennen von Stein- und Braunkohle erzielt.

Angesichts der Energiekrise entschied sich die Bundesregierung im vergangenen Jahr dazu, auch hierzulande wieder verstärkt auf Kohlestrom zu setzen. Sie erlaubte den Versorgern, stillgelegte Steinkohlekraftwerke wieder an den Markt zu bringen. Insgesamt 14 Anlagen bieten seitdem wieder Strom an. Eine entsprechende Verordnung erlaubt den Stromverkauf aus Reservekraftwerken, die mit Steinkohle oder Öl befeuert werden, bis Ende März 2024. Auch fünf Braunkohleblöcke aus der sogenannten Versorgungsreserve durften befristet an den Markt zurückkehren. Die Erlaubnis gilt zunächst bis Ende Juni 2023. 

Kurzfristig werden die CO2-Emissionen also steigen. Vor diesem Hintergrund wurde der Ausstieg aus der Kernenergie immer wieder kritisiert. Häufig wird behauptet, die Atomkraft sei CO2-frei. Dem widerspricht z.B. das Umweltbundesamt: Unter anderem beim Uranabbau, dem Betrieb der Kraftwerke und der Endlagerung würden Treibhausgasemissionen anfallen. Der CO2-Einspareffekt durch einen Weiterbetrieb der AKWs wäre deshalb nur gering, wie auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags betont. Das Ifo-Institut weist außerdem darauf hin, dass eine Laufzeitverlängerung der Kernenergie mittelfristig den Ausbau der Erneuerbaren Energien behindern würde. "Die Laufzeitverlängerungen führen somit nicht zu einem geringeren CO2-Ausstoß", resümieren die Autoren in einer entsprechenden Untersuchung. 

Nach dem Atomausstieg strebt die Bundesregierung bis 2030 auch einen vollständigen Ausstieg aus der Kohleverstromung an.

Fazit: CDU-Chef Friedrich Merz kritisierte in der Sendung den Atomausstieg, der einen Rückgriff auf klimaschädliche Wege der Stromerzeugung notwendig mache. Bereits am ersten Tag nach dem Ende der Kernenergie sei der Import von Kohlestrom aus Polen sprunghaft angestiegen, behauptete Merz. Vergleicht man den Sonntag nach dem Atomausstieg (16.4.23) mit dem Sonntag davor (9.4.23), fällt tatsächlich ein Anstieg der Stromimporte aus Polen auf, wo rund 73 Prozent des Nettostroms durch das Verbrennen von Stein- und Braunkohle erzeugt werden. Dieser Anstieg kann jedoch nicht klar auf das Ende der Kernenergie zurückgeführt werden. Auch in den Wochen zuvor gab es immer wieder Tage, an denen die Importe aus Polen ähnlich hoch gelegen haben. Der europäische Strommarkt unterliegt häufigen und von diversen Faktoren beeinflussten Schwankungen. Für eine fundierte Einschätzung muss erst ein längerer Zeitraum betrachtet werden. 

Stand: 19.04.2023

Autor: Tim Berressem