Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 02.05.2023

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Jan Fleischhauer, Ulrike Herrmann, Theo Koll, Sönke Neitzel, Udo Lielischkies
Die Gäste (v.l.n.r.): Jan Fleischhauer, Ulrike Herrmann, Theo Koll, Sönke Neitzel, Udo Lielischkies | Bild: WDR / Oliver Ziebe

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Lebt die Hälfte der Menschen, die 2015 nach Deutschland geflohen sind, von Sozialleistungen?

Lebt die Hälfte der Menschen, die 2015 nach Deutschland geflohen sind, von Sozialleistungen?

Unsere Kommentatoren diskutierten u.a. über die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt, vor allem auch unter dem Aspekt der Zuwanderung. Ulrike Herrmann (taz) erklärte, dass Deutschland dringend Arbeitskräfte aus dem Ausland brauche, da laut aktuellen Prognosen bis zum Jahr 2050 etwa 12 Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt fehlen werden. Dem stimmte Focus-Kolumnist Jan Fleischhauer grundsätzlich zu, gab aber gleichzeitig zu bedenken, dass die Hälfte der Geflüchteten, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, noch immer nicht in den Arbeitsmarkt integriert worden seien. 

Streitpunkt Arbeitskräftemangel: Lebt die Hälfte der 2015 nach Deutschland Geflohenen heute noch von Sozialleistungen?

Herrmann: "Ich glaube, dass in Deutschland so die Idee ist, dass es eigentlich ein ganz riesiges Problem ist, wenn hier Flüchtlinge bei uns ankommen. Aber in Wahrheit, das muss man in aller Deutlichkeit sagen, brauchen wir diese Flüchtlinge, denn das hat ja jeder schon mitbekommen, dass wir ein enormes Problem bei den Arbeitskräften haben, und das wird sich noch verschärfen, weil die Baby-Boomer in Rente gehen und keine Jugendlichen nachwachsen. Und ich möchte nur mal eine Zahl in den Raum werfen, die ist nicht von mir, sondern vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Die Lücke wird 2050 auf 12 Millionen Menschen anwachsen, die fehlen auf dem Arbeitsmarkt."

Maischberger: "12 Millionen bis 2050."

Herrmann: "Und zwar unter der Bedingung, dass jedes Jahr 200.000 [Menschen] einwandern. Und das erreichen wir im Normalfall gar nicht. Also im letzten Jahr kamen zwar mal eine Million Ukrainer, aber die werden ja wieder zurückgehen und wir kriegen auch nicht jedes Jahr eine Million Ukrainer. Das heißt, eigentlich müsste den Deutschen klar sein, wir müssen dankbar sein, das würde ich jetzt mal so hart sagen, wenn hier Flüchtlinge sind."

(…)

Fleischhauer: "Ja, den fröhlichen Gospel, den kenne ich. Also, wir brauchen ganz viele Arbeitskräfte, deswegen brauchen wir Zuzug aus dem Ausland. Da bin ich ja noch dabei. Nur, wenn wir uns die Zahlen angucken, also nehmen wir mal die Geflüchteten vom Jahr 2015, dem großen Krisenjahr, 900.000. Davon sind im Augenblick im Hartz-IV-Bezug – neueste Zahl, FAS vom Wochenende – 50 Prozent. Nach acht Jahren immer noch 50 Prozent im Hartz-IV-Bezug."

Koll: "Ganz oder teilweise."

Fleischhauer: "Insgesamt von den Hartz-IV-Beziehern im Augenblick in Deutschland haben 44 Prozent keinen deutschen Pass. Da muss man sich aber mal fragen, was da schief läuft."

Stimmt das? Lebt die Hälfte der Menschen, die 2015 nach Deutschland geflohen sind, von Sozialleistungen?

Ulrike Herrmann bezieht sich mit der Aussage, dass bis zum Jahr 2050 etwa 12 Millionen Arbeitskräfte in Deutschland fehlen werden, auf eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Diese Erhebung stammt allerdings aus dem Jahr 2016. Aktuellere Prognosen machen das Problem noch deutlicher. So veröffentlichte das IAB im November 2021 eine Studie, wonach das sogenannte Erwerbspersonenpotenzial ohne Zuwanderung bis 2035 um 7,2 Millionen, bis 2060 sogar um insgesamt 16 Millionen Arbeitskräfte abnehmen werde. Nur bei einer Nettozuwanderung von 400.000 Personen pro Jahr blie­be das Erwerbspersonenpotenzial bis 2035 konstant, stiege langfristig bis 2060 sogar leicht von 47,4 Millionen auf 47,9 Millionen Er­werbspersonen. Die Autoren der Studie betonen vor diesem Hintergrund, wie wichtig es sei, vor allem ausländische Frauen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren, aber auch die Erwerbsquoten deut­scher Frauen sowie der Älteren müssten langfristig steigen. 

In seiner Replik auf Ulrike Herrmann verwies Jan Fleischhauer auf aktuelle Zahlen, wonach die Hälfte der 2015 nach Deutschland geflohenen Menschen heute noch auf Sozialleistungen angewiesen sei. Tatsächlich war am 30.4.23 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu lesen: "Von den fast 900.000 Asylbewerbern […], die 2015 ins Land kamen, lebt heute fast die Hälfte ganz oder teilweise von staatlicher Unterstützung." Diese Erkenntnis stammt aus einer Analyse, die das IAB im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge erstellt hat. Seit 2016 befragt das Institut jährlich Tausende erwachsene Geflüchtete, die zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland zugezogen sind, und gleicht ihre Aussagen mit Sozialversicherungsdaten der Bundesagentur für Arbeit ab. Die Erhebung ist repräsentativ. Die neuesten Daten wurden 2021 veröffentlicht und geben Aufschluss über die Jahre 2016, 2017 und 2018. Demnach lag die Erwerbstätigenquote unter den Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren zuletzt bei 55 Prozent. Doch insbesondere geflüchtete Frauen sind laut der IAB-Befragung deutlich seltener erwerbstätig. Während etwa 60 Prozent der geflüchteten Männer arbeiten, sind es bei den Frauen nur 25 bis 30 Prozent.

Insgesamt sei die Integration in den Arbeitsmarkt aber durchaus positiv zu bewerten, wie das IAB in einer weiteren Analyse darstellt. Als Vergleichsgröße wird hier der Zuzug in Folge des Jugoslawien-Kriegs angeführt. Unter den seit den frühen 1990er-Jahren bis zum Jahr 2013 zugezogenen Geflüchteten hatten fünf Jahre nach dem Zuzug 44 Prozent eine erste Arbeit gefunden – rund neun Prozentpunkte weniger als bei den Geflüchteten von 2015. Der Staat habe in den 1990er-Jahren weniger für die Integration getan, heißt es als Begründung. So wurden etwa Integrationskurse erst 2005 im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes eingeführt und standen zunächst nur Geflüchteten mit Schutzstatus offen. Asylbewerber, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, können erst seit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, das im Oktober 2015 in Kraft trat, Integrationskurse besuchen.

Mit seiner Aussage, dass etwa 44 Prozent der Menschen, die Sozialleistungen beziehen, keinen deutschen Pass haben, hat Jan Fleischhauer Recht. Laut Bundesagentur für Arbeit belief sich die Gesamtzahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Januar 2023 auf 3.892.440 Personen. Davon waren 1.783.910 Personen ohne deutschen Pass. 

Fleischhauer sprach in der Sendung mehrmals von Hartz-IV-Beziehern. Um genau zu sein, wurde das Arbeitslosengeld II, auch bekannt als Hartz IV, am 1. Januar 2023 durch das sogenannte Bürgergeld abgelöst. Die Regelsätze liegen beim Bürgergeld höher als beim Arbeitslosengeld II. Während der sogenannten Karenzzeit im ersten Jahr des Bürgergeldbezugs übernimmt der Bund die Mietkosten und einen Teil der Heizkosten. Außerdem können Arbeitsuchende mehr von ihrem Ersparten behalten als bisher.

Fazit: Ulrike Herrmann hat Recht, dass der deutsche Arbeitsmarkt wohl langfristig auf den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte angewiesen sein wird. Darauf deuten aktuelle Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hin. Demnach werde das sogenannte Erwerbspersonenpotenzial ohne Zuwanderung bis 2035 um 7,2 Millionen, bis 2060 sogar um insgesamt 16 Millionen Arbeitskräfte abnehmen. Nur bei einer Nettozuwanderung von 400.000 Personen pro Jahr bleibe das Niveau konstant, so die Prognose. Im Gegenzug verwies Jan Fleischhauer in der Sendung auf aktuelle Zahlen, wonach die Hälfte der 2015 nach Deutschland geflohenen Menschen heute noch auf Sozialleistungen angewiesen sei. Das stimmt nicht ganz. Laut den aktuellsten Daten des IAB, die sich auf das Jahr 2018 beziehen, lag die Erwerbstätigenquote unter den Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren zuletzt bei 55 Prozent. 45 Prozent waren demzufolge nicht erwerbstätig. Im Vergleich zu früheren Fluchtbewegungen, z.B. in Folge des Jugoslawien-Kriegs in den 1990er-Jahren, bewerten die Autoren der Studie die derzeitige Integration in den Arbeitsmarkt aber durchaus positiv.

Stand: 03.05.2023

Autor: Tim Berressem