Mi., 11.08.21 | 21:45 Uhr
Das Erste
Die kleine GDL und der große Lokführerstreik
GDL-Chef Claus Weselsky ist bekannt für seinen harten und lauten Arbeitskampf –spätestens seit 2014, als er als meistgehasster Deutscher betitelt wird. Damals erlebt das Land die längsten Lokführerstreiks seiner Geschichte. Nun könnte der nächste folgen. "Es geht darum, dass in diesem Land eine ganze Menge an Menschen anerkennt, dass Gewerkschaftsarbeit nicht nur bei Sonnenschein und Flaute sein muss, sondern auch wenn Sturm und hohe See ist. Ich vertrete die Interessen meiner Mitglieder, die stehen hinter mir. Das ist der einzige Maßstab, der für mich gelten muss", zeigt sich der GDL-Chef kämpferisch.
Vor einem Streiklokal unterstreicht Lokführer Claudio Albrecht: "Wir machen es nicht im Hintertürchen. Wir machen es draußen. Das gefällt nicht jedem. Aber es kommt bei den Kollegen auch gut an."

Warum präsentiert sich die GDL stets so rigoros?
1990 wurde die GDL als erste freie Gewerkschaft in der DDR gegründet. Sofort ging sie in den Streik. Es ging um Lohnangleichung, Erhalt von Arbeitsplätzen. Viele Ost-Lokführer fühlten sich benachteiligt, sogar ihre Betriebsrenten aus DDR-Zeiten wurden ihnen aberkannt. Es brodelte unter den Mitarbeitern. Für Westlokführer hingegen änderte sich nicht viel. Viele waren Beamte und durften nicht streiken. Die Westgewerkschaften interessierten sich wenig für die Belange der Ost-Kollegen.
Unter Hartmut Mehdorn folgte die Privatisierung der Bahn. Der Druck auf die Löhne wuchs weiter. GDL-Chef Claus Weselsky erklärt rückblickend dazu: "Der harte Arbeitskampf rührt aus der Tatsache her, dass die Bahn 1993 privatisiert und liberalisiert wurde, um Wettbewerb einzuführen. Wir durften dann erleben, dass eine andere Gewerkschaft in Unternehmen des Wettbewerbs Einkommen von 40 Prozent unter denen der Deutschen Bahn AG-Tarifverträge erfasst hat."

Machtkampf zwischen zwei Gewerkschaften
Weselsky spielt auf die Konkurrenz an, die zweite Gewerkschaft der Branche: die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG. Diese gelte seit jeher als nicht ganz so kampfbereit, sagt Tarifforscher Hagen Lesch vom Institut der Deutschen Wirtschaft: "Die EVG ist eine Gewerkschaft, die eher um Harmonie und Konsens bemüht ist. Das sieht man auch schon am letzten Abschluss. Man hat einer maßvollen Lohnerhöhung zugestimmt und im Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie bekommen. Die Zielsetzung der EVG ist eine andere. Sie sieht mehr das wirtschaftliche des Unternehmens, auch die Probleme der Deutschen Bahn."
Dieses Harmoniebestreben der EVG steht auch immer wieder als zu arbeitgebernah in der Kritik. Der Vorwurf: Die EVG habe im Herbst einen Tarifvertrag abgeschlossen, der jahrelangen Real-Lohnverlust bedeuten würde. Ihr früherer Vorsitzender wechselte nach einem halben Amtsjahr ins Konzernmanagement der Bahn. Die EVG äußert sich uns gegenüber nicht. Klar wird: Es gibt ein Machtgerangel zwischen zwei Gewerkschaften, das jetzt zum Höhepunkt kommt.

Tarifeinheitsgesetz setzt GDL unter Druck
Seit 2015 gilt das Tarifeinheitsgesetz. Es regelt, dass es in einem Betrieb nur einen Tarifvertrag geben kann. Im Streitfall gilt: Wenn die Mitglieder einer Berufsgruppe, zum Beispiel Lokführer, in verschiedenen Gewerkschaften organisiert sind und mit dem Arbeitgeber unterschiedliche Tarifverträge haben, dann gilt nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die in diesem Betrieb die meisten Mitglieder hat.
Eigentlich kann die GDL also kaum noch Tarifverträge verhandeln. Denn sie soll in vielen Betrieben in der Minderheit sein. Doch die GDL hatte 2015 eine Sondervereinbarung mit der Deutschen Bahn ausgehandelt. Nämlich, dass das Tarifeinheitsgesetz für sie erst ab diesem Jahr angewendet wird. Das setzt die GDL jetzt auf einmal unter immensen Druck, weiß Tarifforscher Hagen Lesch: "Deshalb hat sie ihre Strategie geändert. Sie will die größte Gewerkschaft werden und die EVG überholen. Und um die Mitglieder der EVG abzujagen, muss sie einen tarifpolitisch offensiven Kurs fahren."
Das sei so nicht richtig, sagt Claus Weselsky. Es sei noch überhaupt nicht nachgewiesen, dass die GDL wirklich weniger Mitglieder in den Betrieben habe. Offen zu gibt er dagegen, dass der Streik auch dazu diene, für sich zu werben: "Was ist bitteschön falsch dran, wenn eine Gewerkschaft organisiert und Mitglieder gewinnt? Wir haben in einem Jahr 3.000 neue Mitglieder bei uns aufgenommen."
Sparten-Gewerkschaften kämpfen auch um ihren Selbsterhalt
Sparten-Gewerkschaften gibt es nicht nur bei der Bahn. Auch Ärzte, Flugbegleiter oder Piloten lassen sich — ganz exklusiv — von eigenen Verbänden vertreten. In Konkurrenz zur restlichen Belegschaft, die oft bei einer großen DGB-Gewerkschaft Mitglied ist.
Nicoley Baublies war selbst Chef einer Sparten-Gewerkschaft, bei UFO, einer Organisation für Flugbegleiter. Wir treffen ihn am Bahnhof Werder bei Berlin, wo auch kaum noch ein Zug fährt. Er hat dafür volles Verständnis: "Jetzt sagt man, die GDL ist doch egoistisch, die kämpft nur ums Überleben. Ja, natürlich, sie machen Tarifverträge. Sie haben Mitglieder. Natürlich ist es auch ihre Pflicht, um ihr Überleben zu kämpfen."

Das Beispiel Lufthansa: Verdi und die kleine UFO
Die Flugbegleiter streikten, mit der UFO im Rücken, im Herbst 2019. Hunderte Flüge wurden gestrichen. Reisende steckten an den Flughäfen fest. Auch damals ging es nicht nur um Geld und Arbeitsbedingungen. Sondern darum, wer überhaupt Tarifverhandlungen führen darf. "Es gab das Bestreben von Verdi, uns als kleinere Gewerkschaft wirklich vom Tisch zu kriegen. 2019, 2018 war das ein großer Konflikt, wo die Verdi der Lufthansa doch sehr nahe war und man versucht hat, die UFO loszuwerden", erklärt Nicoley Baublies.

Weder Lufthansa noch Verdi wollen sich auf Anfrage von Plusminus dazu äußern. Doch der Konflikt ist offensichtlich: Auf der einen Seite die große Flächengewerkschaft des DGB, die alle Beschäftigten vertreten will. Auf der anderen der kleine Sparten-Verband, der für seine Berufsgruppe kämpft — mit oft hohen Gehaltsforderungen, so Gewerkschafts-Experte Wolfgang Schroeder. "Das kann man sehr schön sehen bei den Piloten, bei den Ärzten, bei den Lokführern, die für sich allesamt den Eindruck haben, sie sind das Zentrum dieser jeweiligen Einrichtungen und Unternehmungen", erklärt der Fachgebietsleiter der Gesellschaftswissenschaften an der Universität Kassel.
Tarifeinheitsgesetz sollte eigentlich Konflikt entschärfen
2014 gab es sowohl von den Piloten als auch von den Lokführern große Streikaktionen. Hunderttausende Reisende waren betroffen. Die Bundesregierung reagierte mit eben dem Tarifeinheitsgesetz. Die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) gab sich kämpferisch: "Dass einige Spartengewerkschaften für ihre Partikularinteressen vitale Funktionen unseres gesamten Landes lahmlegen, ist nicht in Ordnung." Dass nur die mitgliederstärkste Gewerkschaft in jeder Berufsgruppe eines Unternehmens nach dem im Juli 2015 in Kraft getretenen Tarifeinheitsgesetz einen Tarifvertrag aushandeln darf, sollte den Konflikt entschärfen.

Doch GDL, UFO, Cockpit und andere wollten nicht kooperieren, stellten sich gegen die DGB-Gewerkschaften ihrer Branchen. "Da wirkt das Tarifeinheitsgesetz Konflikt-fördernd. Weil die Minderheits-Gewerkschaft hat ja nur eine Chance, zur Mehrheits-Gewerkschaft zu werden, wenn sie Aufsehen erregt, wenn sie Bedeutsamkeit erringt", erklärt Gesellschaftswissenschaftler Wolfgang Schroeder.
Miteinander statt gegeneinander?
In Frankreich und England hat jede Berufsgruppe eine eigene Gewerkschaft. Doch diese kooperieren lieber, als sich zu bekämpfen. Und auch die Lufthansa hat offenbar eingesehen, wie zäh Sparten-Gewerkschaften sind. Der heutige UFO-Vorsitzende Daniel Kassa Mbuambi ist voll des Lobes: "Wir befinden uns aber mittlerweile in gesunden, sozialpartnerschaftlichen Gesprächen. Das ist auch die Art, wie wir das wollen."
Sparten-Gewerkschaften lieber einbinden als bekämpfen — bis zur Deutschen Bahn ist diese Einsicht noch nicht vorgedrungen. Der Konflikt ist noch nicht entschärft. "Ich glaube, es wird eine ganze Weile gehen. Die Bundesregierung wird sich irgendwann einschalten. Dann wird Herr Scheuer sagen, das geht doch so nicht. Und dann wird die Bahn vielleicht auch sagen: Gut, wir machen ein echtes Angebot. Wo auch klar ist, zumindest hinter verschlossenen Türen: Es wird auch um die Koexistenz der beiden Gewerkschaften verhandelt", schätzt der ehemalige UFO-Chef Nicoley Baublies die Lage ein. Und so lange wird die GDL weiter kämpfen, zu Lasten der Passagiere.
Autoren und Autorinnen: Matthias Weidner, Johannes Beese, Niko Fröba, Nadine Scheer, Ulrike Unfug, Danny Voigtländer, Lea Kannetzky
Bearbeitung: Carmen Brehme
Stand: 13.08.2021 15:41 Uhr
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