Mi., 01.07.20 | 21:45 Uhr
Warum niedrige Ost-Löhne auch Folgen im Westen haben

Dana Wünsche hat vor 30 Jahren die Währungsunion miterlebt. So lange arbeitet sie auch schon bei Bautzner Senf. Sie ist heute dort für die Qualitätskontrolle zuständig. Sie bezahlt zwar seit drei Jahrzehnten mit derselben Währung wie ihre Kollegen im Westen, aber in ihrer Lohntüte ist nach jedem Monat viel weniger drin. "Meine eigentliche Arbeit macht mir unheimlich Spaß. Aber hingehen tu ich nicht mehr gern. Denn die Wertschätzung ist gleich Null. Das Wissen, dass man weniger verdient. Das Unverständnis, das man mehr haben möchte. Wo sie denken, das steht uns nicht zu. Es macht keinen Spaß mehr", erklärt sie.
Gleiche Arbeit, weniger Lohn: Beispiel Senfproduktion

Würde Dana Wünsche dieselbe Tätigkeit in einem Betrieb im Westen Deutschlands ausführen, bekäme sie um die 1.000 Euro brutto mehr. Bautzner Senf gehört zur Develey-Gruppe, zu der auch Löwensenf aus Düsseldorf gehört. Dort hat Zayde Torun ihre Ausbildung gemacht. Heute arbeitet sie für die Gewerkschaft NGG und betreut ihren alten Ausbildungsbetrieb. "Bei Löwensenf haben sie eine 5-Tage-Woche, 38-Stunden-Woche. Das sind 165 Stunden im Monat. Dementsprechend fühlen sich die Beschäftigten sehr wohl dort, weil die Arbeitsbedingungen gut sind. Und auch weil die Löhne gut sind. Die meisten gehen da auch in Rente. Das ist immer ein sehr gutes Zeichen für ein Unternehmen", schildert sie aus der Praxis.
Bei Löwensenf bekommt der Facharbeiter einen Stundenlohn von 18,44 Euro. Im Schwesterbetrieb in Bautzen nur 12,14 Euro. Das ist ein Unterschied von 6,30 Euro die Stunde – und das bei gleicher Produktivität. Bei Develey sagt man uns, dass dies alleine aber keine höheren Löhne rechtfertige.
Lohnlücken nicht immer durch Standortfaktoren erklärbar
Heute, im 30. Jahr nach der Währungsunion, gibt es aber durchaus Branchen, in denen in Ost und West gleich viel verdient wird. Dies ist etwa bei Versicherungen der Fall, im öffentlichen Dienst, bei Banken, der Deutschen Post oder bei der Deutschen Bahn.

Aber es gibt mehr Bereiche, da stagniert die Angleichung an den Westen. Der durchschnittliche Lohn in Ost und West hat sich in den letzten 15 Jahren kaum angenähert. Dafür gebe es viele Gründe, erklärt Marcel Thum von der ifo Dresden. "Viele Firmen im Osten sind kleiner. Es sind die Branchenstrukturen, die eine Rolle spielen. Es sind Produktivitätsnachteile, die auch mit der Lage der Firmen zu tun haben", zählt er auf. So gebe es viele Faktoren, die hier benannt werden könnten. "Die sicher auch dauerhaft sind", räumt Thum ein. "Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Lohnlücken, die wir nicht mit harten ökonomischen Faktoren erklären können", weiß er.
Die Ost-West-Lohnlücke liegt bei 20 Prozent. Für zehn Prozent davon finden die Experten in Dresden keine Erklärung durch Wirtschaftsfaktoren. Verdient ein Arbeitnehmer im Osten - so wie Diana Wünsche - also 1.000 Euro brutto weniger im Monat, sind davon nur wirklich 500 Euro begründbar.
Hier spiele auch die traditionell geringe Tarifbindung im Osten eine Rolle. Nur 45 Prozent aller Beschäftigten werden dort nach Tarif bezahlt. Aber auch der Westen zog nach, von einst 70 auf heute 56 Prozent - etwa so viel wie vor 20 Jahren in den neuen Bundesländern. Damit ist hier ein Rückgang in Ost und West zu verzeichnen.
Experte: "Niedrige Löhne sind ein Problem für Gesamtdeutschland"

Dabei dürfe die schlechte Tarifbindung kein Vorbild für den Westen sein, sagt Malte Lübker von der Hans-Böckler-Stiftung. Lübker beschäftigt sich dort im Referat Tarif- und Einkommensanalysen mit der Lohnentwicklung in ganz Deutschland. "Die niedrigen Löhne sind ein Problem für Gesamtdeutschland, weil es dadurch Wettbewerbsverzerrung gibt. Einige Anbieter mit niedrigen Löhnen operieren außerhalb der Tarifbindung. Das setzt Betriebe in ganz Deutschland unter Druck. Weil dadurch Konkurrenz, die auf niedrigen Löhnen basiert, in den Markt kommt. Insofern ist die Bestrebung, Tarifverträge wieder durchzusetzen in Niedriglohnbranchen wie der Ernährungswirtschaft, wichtig, um faire Wettbewerbsbedingungen in ganz Deutschland zu schaffen", betont der Wirtschaftsforscher.
Im Osten wird im Durchschnitt länger gearbeitet
Große Konzerne, die deutschlandweit Werke haben, füllen die Lohntüte auch abhängig von den Standorten. Und das trotz gleicher Tarifbezahlung. Im VW Werk in Zwickau beträgt die tarifvertraglich geregelte wöchentliche Arbeitszeit 38 Stunden. Im VW Werk in Osnabrück gilt die 35-Stunden-Woche. Diese Zahl müsse im Jahresdurchschnitt eingehalten werden, sagt Joachim Bigus, Mitarbeiter bei VW Osnabrück „Das ist so seit 1995“, erklärt er.

Jan Andrä, Mitarbeiter bei VW in Zwickau, findet das ungerecht. „Wenn man es tatsächlich auf ein durchschnittliches Berufsleben hochrechnet, dann ist man bei drei Jahren, die wir ungefähr länger arbeiten müssen“, rechnet er vor. Durch die längere Arbeitszeit verdienen die Mitarbeiter in Sachsen knapp acht Prozent weniger als ihre Kollegen im Westen. Ähnliches gilt übrigens auch für die Standorte von BMW.
Dabei seien die Konzernbetriebe im Osten teilweise produktiver als im Westen, sagt Klaus Dörre von der Universität Jena. "Trotzdem haben wir die Tatsache, dass etwa der Tarifabschluss mit der Arbeitszeitverkürzung in der Industrie im Osten nicht umgesetzt worden ist. Also man arbeitet nach wie vor länger im Durchschnitt im Osten. Das ist mit Produktivitätsunterschieden überhaupt nicht zu erklären", so der Soziologe.
Große Lohnunterschiede in der Altenpflege – bundesweit

Besonders drastisch von Tarifflucht betroffen ist der Bereich Altenpflege. Eine Pflegekraft aus Sachsen zeigt uns ihren Lohnzettel. Bei einer 30 Stunden-Woche verdient sie monatlich knapp 1.300 Euro netto. In der Altenpflege gibt es große Lohnunterschiede innerhalb Deutschlands, nicht nur zwischen Ost und West, sondern zwischen allen Bundesländern. Am meisten verdienen Altenpfleger in Baden-Württemberg und Bayern. Weit abgeschlagen ist schon Niedersachsen. Schlusslichter sind aber auch hier Sachsen und Sachsen-Anhalt.
Oftmals werden die geringen Löhne damit gerechtfertigt, dass die Lebenshaltungskosten im Osten niedriger seien. "Wenn man jetzt den Osten nach Regionen differenziert, ist das Argument nicht sehr stichhaltig. In Jena etwa haben sie Lebenshaltungskosten, die dürften höher sein als in vielen Regionen im Westen. Also wenn man mit regionalen Unterschieden tatsächlich argumentiert, dann brauchte man flächendeckend tatsächlich einen Maßstab, der diese Unterschiede auch glasklar transparent macht. Dann könnte man so argumentieren", entgegnet der Soziologe Klaus Dörre auf diese Theorie.
Löhne im Osten als Druckmittel für Lohnstagnation im Westen

Die NGG hat vor zwei Wochen in Dresden für mehr Lohn gestreikt. Ein Gewerkschafter aus Hamburg betonte, dass man auch im Westen wolle, dass sich endlich etwas ändert. Das sei auch wichtig für die Tarifauseinandersetzung in den alten Bundesländern. "Da viele Unternehmen, die Standorte im Osten haben, immer argumentieren können, wir haben ja noch den Standort in Riesa oder Bautzen, der ja viel billiger produzieren kann und deswegen gibt es auch im Westen nicht höhere Löhne. Das heißt, ein Erfolg hier in Sachsen hilft auch allen Beschäftigen in Westdeutschland. Darum wird das von ganz Deutschland unterstützt", versichert er.
Noch haben die Verhandlungen nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Der sächsische Arbeitgeberverband Nahrung und Genuss argumentiert, drei Prozent mehr Gehalt seien bereits angeboten worden. Die von der Gewerkschaft geforderte Angleichung wird mit den Worten "ebenso unrealistisch wie maßlos" zurückgewiesen.

Autorinnen: Nadine Scheer, Julia Pfeifer
Bearbeitung: Carmen Brehme
Stand: 02.03.2021 15:00 Uhr
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