Mi., 09.09.20 | 22:00 Uhr
Das Erste
Logistik-Boom – Wie entlang der Autobahnen die Zentren sprießen
Bürgerproteste gegen die boomende Logistik
Im mittelhessischen Wölfersheim gibt es Protest gegen das geplante Logistikzentrum. Die Bürger wollen den Rewe-Konzern "vom Acker jagen". Es soll keine Halle mit einem halben Kilometer Länge und keine Versiegelung der fruchtbaren Böden geben – es soll alles so bleiben, wie es schon immer war. Bürgerproteste gegen die boomende Logistik gibt an vielen Orten. Der Streit geht quer durch die Republik.

In Lich kämpft eine Bürgerinitiative gegen neue Logistikhallen. In Lehrte sorgt ein Aldi-Logistikzentrum für Ärger. In Würgassen sind Protestler vereint im Widerstand, auch in Wallersdorf sind sie im Aufstand. In Heidenau hat der Protest eine Erweiterung zunächst verhindert.
Arbeitsplätze vs. Umweltinteressen
Widerstand gibt es also an vielen Orten. Immobilienexperte Michael Voigtländer fühlt sich an Proteste gegen Autobahnbau oder Flughafenausbau erinnert: "In der Vergangenheit war es häufig so, dass das bei Logistik eigentlich kein Problem war. Vielfach waren die Orte sogar sehr glücklich, dass nun endlich auch wirtschaftliche Aktivität dort Einzug erhält. Aber mittlerweile hat es eben eine größere Dimension angenommen – und so bilden sich dort natürlich auch Bürgerinitiativen."
Unübersehbar sind die Lager von Amazon oder auch von Libri in Bad Hersfeld – am berühmtesten Logistik-Hotspot in Deutschland. Von hier kommen Schulbücher, Romane oder Bildbände und erreichen über Nacht alle Buchhandlungen. Die zentrale Lage war der entscheidende Faktor bei der Standortwahl. Damals wurde auch noch der rote Teppich ausgerollt, erinnert sich Logistik-Chef Jörg Paul von Libri:" Wir sind hier vor über 20 Jahren mit offenen Armen empfangen worden und haben uns natürlich sehr gefreut, uns auch so weiterentwickeln zu können. Wir sind bis heute noch immer im engen Austausch - sei es hier mit der Bevölkerung als auch mit der Stadtverwaltung."

Der direkte Draht ist wichtig für den Standortausbau. Ab nächstem Herbst werden bei Libri in Bad Hersfeld Bücher innerhalb weniger Stunden nach der Bestellung gedruckt und direkt ausgeliefert. Das soll weitere 100 Arbeitsplätze schaffen. Ausgeliefert wird auch in Zukunft mit dem Lkw und nicht mit der Bahn, denn mit den Zustellfahrzeugen können die Bestellungen direkt in die Innenstädte fahren - zu jeder Tages- und Nachtzeit. Autobahn statt Schiene. Das gilt praktisch für alle in und um Bad Hersfeld.

Logistikunternehmen ziehen Logistikunternehmen an
In den vergangenen 20 Jahren wurde die Liste mit den ansässigen Logistikunternehmen länger und länger. Libri und Amazon sind längst nur noch Beispiele unter vielen. Von hier aus verteilen alle großen Logistiker und viele Spezialfirmen die Ware in ganz Deutschland und Europa.
Die Folge sind Steuereinnahmen für die Kommune und eine geringe Arbeitslosigkeit von nur vier Prozent. Der Bad Hersfelder Bürgermeister Thomas Fehling (parteilos) vertraut darauf, dass deshalb auch in Zukunft die großen Proteste ausbleiben: "Irgendwo hat jeder jemanden aus der Familie, der mit der Logistik verbunden ist, der in der Branche arbeitet oder aber vom Mieter profitiert. Insofern gibt es schon eine grundsätzlich sehr positive Haltung."

Flächenbedarf für Logistikhallen steigt
Die Logistikhallen brauchen immer mehr Platz. Im Jahr 2010 wurden 2,1 Millionen Quadratmeter neu gebaut – das entspricht einer Fläche von 300 Fußballfeldern. Im vergangenen Jahr war der Flächenbedarf schon mehr als doppelt so hoch. Insgesamt hat Deutschland eine Logistikfläche von 145 Millionen Quadratmetern, das entspricht rund 20.500 Fußballfeldern.
Der Corona-Effekt kommt jetzt noch dazu. Und das liegt nicht nur am Boom des Online-Handels. So erklärt Professor Michael Voigtländer, Immobilienexperte beim IW Köln:" Gerade Corona zeigt, dass wir immer mal Lieferengpässe haben können. Das heißt, dass wir möglicherweise auch mehr Lager brauchen, um Waren vorzuhalten. Um Produkte, die die Unternehmen auch für die Produktion brauchen, vorzuhalten. Deswegen unterstützt Corona tatsächlich noch einmal den Bedarf an Logistikflächen."
Standortstreit: Bürgerinitiativen vs. Kommunen
Für das Rewe-Logistikzentrum in Wölfersheim hat das Gericht gerade einen Baustopp verhängt. Ein Etappensieg für die Protestbürger. In dem Ort mit rund 10.000 Einwohnern sollen im Logistikzentrum allerdings 550 Arbeitsplätze entstehen. So macht der Wölfersheimer Bürgermeister Eike See (SPD) eine ganz andere Rechnung auf: "Wenn man die gleiche Fläche parzellieren würde und sie an mehrere Unternehmen verkaufen würde, bräuchten wir mindestens zwischen 25 und 30 Jahre, um hier die gleiche Anzahl an Arbeitsplätzen anzusiedeln."
Einige Bürgermeister fühlen sich bedroht
Der Streit wird immer heftiger ausgetragen. Da wird "Rewe" zu "Frevel" und nicht nur das. Auch der Wölfersheimer Bürgermeister wurde schon bedroht: "Ich habe das auch am eigenen Leib erfahren: Da war jemand bei mir in der Bürgersprechstunde und da musste ich das Gespräch abbrechen, weil er mich bedroht hat. Ich habe nachts auch Anrufe gehabt".
Christa Degkwitz von der Bürgerinitiative "Bürger für Boden" entgegenet: "Dass sich natürlich Gegner finden, die sich vielleicht auch im Ton vergreifen oder den Bürgermeister anrufen, hat nichts mit der BI in dem Sinne zu tun, dass wir dazu aufgerufen hätten. Das bewegt die Menschen einfach sehr".

Auch in Hammersbach wird mit harten Bandagen gegen die Verdopplung des Gewerbezentrum Limes an der A45 gekämpft. Die Bürgerinitiative macht online mit Videos mobil. Protestbürger und Lokalpolitiker sprechen dort übereinander statt miteinander – es gibt Vorwürfe und Anschuldigungen. Kim Sen-Gupta ist Sprecher der "Bürgerinitiative Schatzboden" und beklagt den rauen Ton: "Wir werden pauschal und immer wieder als Lügner hingestellt, ohne dass uns gezeigt wird, an welcher Stelle wir gelogen hätten. Das wird nie gesagt. Wir werden als Demagogen hingestellt".
Der Hammersbacher Bürgermeister Michael Göllner (SPD) sieht das anders und beklagt seinerseits den Umgang mit ihm und seinen Amtskollegen: "Der Bürgermeister aus Limeshain hat beispielsweise vor kurzem Post mit zwei toten Mäusen bekommen. Ich behaupte nicht, dass das die Leute der Bürgerinitiativen waren. Aber, es ist offensichtlich mittlerweile in unserer Gesellschaft und Kommunen ein Geist eingekehrt, der so etwas möglich macht".
Ein Beitrag von Steffen Clement
Online-Bearbeitung: Jan Arnold
Der Beitrag wurde produziert vom Hessischen Rundfunk (hr) für "Das Erste".
Stand: 10.09.2020 14:02 Uhr
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