Mi., 15.07.20 | 21:45 Uhr
Das Erste
Dispozinsen - wie Corona-Opfer abgezockt werden
In den letzten Corona-Monaten sind Millionen Menschen ohne eigenes Verschulden mit ihrem Girokonto in die roten Zahlen gerutscht. Und es könnten bald noch mehr werden, denn die Krise nagt am Vermögen vieler Haushalte, hat die Bundesbank heute erklärt. Jetzt erleben manche Verbraucher zum ersten Mal, wie heftig Banken und Sparkassen bei Dispo-Zinsen zulangen. Vor allem im Vergleich zu den Null-Zinsen für Guthaben. Wie passt das noch in die Zeit?
Erfolgreiche Künstlerin rutscht in die Miesen
Dass ihr Superhit "Schatten an der Wand"aus den Achtzigern so treffend in die heutige Zeit passen würde, konnte Julia Neigel nicht ahnen. Aber 2020 ist auch für etablierte Künstler wie sie total von der Krise überschattet. Demnächst wollte sie auf Tour gehen. Doch wegen Corona sind ihre Konzerte verboten. Deshalb ist sie mit einem ihrer Geschäftskonten in die Miesen gerutscht.
Julia Neigel, Sängerin: "Normalerweise hätte ich überhaupt gar keine Probleme im Moment... Ich hätte nur Plus auf den Konten, denn ich wäre jetzt, jetzt, genau jetzt mitten auf der Tournee.“
Knappe 3.000 Euro ist ein Geschäftskonto überzogen. Sie hat derzeit gar keine laufenden Einnahmen, wie viele andere Kulturschaffende auch. Julia Neigel: "Ich bin lieber jemand, der alles bezahlt, seine ganzen Kosten im Blick hat, und auch im Plus ist auf dem Konto, was ja meistens der Fall ist. Und es ist kein schönes Gefühl, das zu wissen.“
Über 10 Prozent Dispozinsen
Das Schlimmste aber: Ihre Bank verlangt sagenhafte 7,4 Prozent Überziehungszinsen. Und damit hat sie noch Glück im Unglück. Die meisten Banken und Sparkassen knüpfen ihren Kunden noch mehr ab.
Der ehemalige Grünen-Finanzexperte Gerhard Schick hat gerade mit seinem Institut "Finanzwende" über 1.200 Geldinstitute mit 3.400 Kontenmodellen unter die Lupe genommen. 52 Prozent verlangen tatsächlich mehr als 10 Prozent Dispo-Zinsen. Das passt absolut nicht in die Zeit, findet Schick. Dr. Gerhard Schick, Finance Watch Deutschland: "Ich finde es extrem ärgerlich, wenn Banken so hohe Zinssätze auf den Dispokredit verlangen (...), gerade jetzt in der Krise, wo ja viele Leute unverschuldet einen Geldbedarf haben, dass sie noch von der schwierigen Situation der Menschen profitieren, und da richtig zulangen, ich finde, das geht so nicht, das ist nicht verantwortungsvoll."
Im Durchschnitt verlangen die Geldinstitute genau 9,96 Prozent. Die Spanne ist gewaltig, je nach Institut und Kontomodell. Dispozinsen in % / p.a.
(Stand: 3.07.2020)
GLS Gemeinschaftsbank 0,00 %
(Privatkonto)
(Bochum)
VR-Bank Uckermark-Randow 4,10 %
(VR-Giro Komfort PLUS)
(17291 Prenzlau)
Kreissparkasse Weilburg 5,49 %
(Premium)(35781 Weilburg)
ING(Girokonto) 6,99 %
(Frankfurt am Main)
Die Spitzenreiter langen zu, als hätte es die Finanzkrise und die extremen Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank nie gegeben.
Postbank 10,55 %
(Giro plus)
(Bonn)
Sparda-Bank Berlin 11,60 %
(Giro DIREKT)
(Berlin)
Deutsche Bank 10,90 %
(BestKonto)
(Frankfurt am Main)
Targo Bank 12,43 %
(Plus Konto)(Düsseldorf)
Raiffeisenbank Anger 13,25 %
(RB-Privat)(83454 Anger)

Viele Kunden nehmen Wucherzinsen einfach hinGerade in der Krise machen viele Banken ein besonders gutes Geschäft. Sie bekommen Geld umsonst und profitieren davon, dass ihre Kunden mit Kurzarbeit und Einkommenseinbußen zu kämpfen haben.
Verbraucherschützer fordern: Endlich runter mit Zinsen
Wir fragen nach bei der "Deutschen Kreditwirtschaft". Wie passen solcheZinssätze noch in die heutige Landschaft? Warum wird so hart zugelangt? Der Verband der Volks- und Raiffeisenbanken antwortet uns stellvertretend: "(...) Dispokredite können von den Kunden besonders kurzfristig genutzt werden und steigern ihre finanzielle Flexibilität(...). Der Dispokredit zeichnet sich aber gerade auch durch ein schlankes Bearbeitungsverfahren aus(...).Und: Diese Unterschiede sind Ausdruck eines funktionierenden Wettbewerbes(...)." Alles richtige Argumente, die Verbraucherschützer gar nicht bestreiten. Aber sie bilden nur einen Teil der Wahrheit ab.
Verbraucherzentrale: Entgeltaufstellung von Bank fordern
Die Zinssätze schwanken häufig, und wo sie niedrig sind, gibt es oft hohe Kontoführungs-Gebühren. Verbraucherschützer raten, sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen. Thomas Beutler, Verbraucherzentrale Saarland: "Von daher kann ich empfehlen, dass man sich eine Entgeltaufstellung bei der Bank mal anfordert. Die Bank ist verpflichtet, mir das auszustellen, und so kann ich gut erkennen, an welcher Stelle ich auf meinem Konto die höchsten Gebühren und Kosten habe und kann entsprechend reagieren." Wer im Moment krisenbedingt gar nicht aus den roten Zahlen herauskommt, der sollte unbedingt auf günstigere Kredite umschulden.
Thomas Beutler, Verbraucherzentrale Saarland: "Dem ist anzuraten, dann einen Ratenkredit aufzunehmen mit deutlichen günstigeren Konditionen, um sich eben diese hohen Zinsen in Zukunft zu sparen."
Zinssätze nehmen einigen jede Perspektive
Musikerin Julia Neigel wird schnell ins Plus kommen, wenn sich die Lage wieder normalisiert. Aber sie kennt auch ganz tragische Fälle. "Ich weiß, dass es Menschen gibt, die sich das Leben genommen haben. Nach zwei Monaten schon, weil sie einfach so perspektivlos und so frustriert und so fertig waren, dass sie keine Perspektive mehr für ihr Leben gesehen haben(...). Ich fordere die Politik auf, dass sie die Banken einfach anweist, diese Dispos aufzuheben unter jetzigen Gegebenheiten, und dass sie den Menschen erst mal die Möglichkeiten geben, wieder durchzuatmen.
Ihr aktueller Song heißt übrigens "Hoffnung" – noch vor der Krise geschrieben. Und aus heutiger Sicht ebenfalls fast prophetisch.
Ein Beitrag von Nicole Würth
Stand: 17.07.2020 12:33 Uhr
Kommentare