Mi., 04.11.20 | 22:50 Uhr
Das Erste
US-Sanktionen gegen Verbündete – wie abhängig wir wirklich von russischem Gas sind
Im ostdeutschen Küstenort Sassnitz hat man die US-Wahl mit besonderem Interesse verfolgt. Denn Donald Trump hatte maßgeblich Sanktionen vorangetrieben, um das Pipeline-Projekt "Nord Stream 2" zu verhindern. In Vorpommern könnten diese gravierende wirtschaftliche Konsequenzen haben.
Hafen Sassnitz drohen US-Sanktionen

Im Oktober wurden dem Hafen Sassnitz Strafen seitens der USA angedroht, weil er am Pipeline-Bau beteiligt ist. Das könnte Aufträge und Jobs kosten, befürchtet Geschäftsführer Frank Kracht. Er nennt es "Erpressung".
Donald Trumps Begründung für sein Handeln: Deutschland werde komplett von Russland kontrolliert bekäme 60 bis 70 Prozent seiner Energie aus Russland - und noch eine neue Pipeline. Falls Biden gewinnt, würde auch er an den Sanktionen festhalten.
Wie viel Energie liefert Russland an Deutschland?
Ein Blick auf den deutschen Energiemix zeigt: 35 Prozent stammen aus Öl, 25 Prozent aus Erdgas. Etwa die Hälfte davon kommt aus Russland. Das heißt, russisches Erdgas deckt knapp 13 Prozent des deutschen Energiebedarfs.
USA kooperiert mit Polen – als Tor nach Osteuropa
Nicht weit entfernt von Sassnitz liegt das polnische Swinemünde, ebenfalls Schauplatz des Erdgas-Streits. An dem dortigen Flüssig-Gas-Terminal kommt Gas per Tankschiff an - aus Norwegen, Katar oder den USA.

Es soll nicht nur Polen, sondern ganz Osteuropa von russischem Gas unabhängig machen. Die Vereinigten Staaten kooperieren eng mit Polen, sagt Justyna Bokajlo vom Institut für internationale Beziehungen an der Uni Breslau. "Wir sind das Tor zu einer Burg, die sich Mittel- und Osteuropa nennt, und vielleicht sogar ein Tor, um die Politik der gesamten Europäischen Union zu beeinflussen", schätzt die Politikwissenschaftlerin ein.
Deutsch-Russische Gasgeschäfte schon früher der USA ein Dorn im Auge
1970 unterzeichneten die Bundesrepublik und die Sowjetunion das erste Erdgas-Abkommen. Ein Tauschgeschäft: sowjetisches Erdgas wurde geliefert gegen Leitungs-Rohre aus dem Westen. Tausende ostdeutsche Arbeiter schweißten sie in der Ukraine zusammen. Der Deal war auch ein politisches Projekt, sagt der Historiker Frank Bösch. "Tatsächlich stützte die Gaspipeline die Beziehungen über Krisen hinweg. Auch nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan wurden die Gas-Geschäfte ausgebaut, auch gegen das Veto der Amerikaner", erklärt Frank Bösch, der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam.
Schon Präsident Reagan hätte die Gas-Geschäfte mit den Sowjets gerne gestoppt. Doch das habe er nie geschafft. Im Gegenteil: Die Lieferungen nach West-Europa stiegen bis 1990 immer weiter an. "Die Beziehungen blieben krisenfest, weil es natürlich um sehr, sehr große Zahlungen aus mehreren Ländern ging. Und die Sowjetunion war auf diese Devisen aus dem Westen angewiesen", betont Frank Bösch, der auch eine Professur für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts inne hat.
Nutzen der "Nord Stream 2" unsicher
Mit zwölf Milliarden Dollar Einnahmen für Öl und Gas scheint Russland mehr von Deutschland abhängig zu sein als umgekehrt. Die Sojus-Trasse aus den 1970er-Jahren ist noch immer aktiv, führt aber durch die unsichere Ukraine.

Russland verfügt inzwischen über Alternativen zur alten Sojus-Trasse: "Jamal-Europe" durch Weißrussland und Polen, "Nord Stream 1" über die Ostsee, "TurkStream" durchs Schwarze Meer und "Tesla" später weiter nach Österreich. Ob "Nord Stream 2" also überhaupt voll genutzt wird, ist unsicher. Auch die Energiewende könnte für die Zukunft der "Nord Stream 2" eine Rolle spielen, sagt Claudia Kempfert vom DIW Berlin. "Wir haben ausreichende Infrastrukturen, auf die wir zurückgreifen können. In Zukunft wird der Gasbedarf eher zurückgehen, gerade wenn man die Klimaziele erfüllen will. Insofern brauchen wir gerade die neue Pipeline nicht", erklärt die Energie-Expertin.
"Nord Stream 2" könnte Gaspreise in Deutschland senken

Im Auftrag von "Nord Stream 2" hat die Universität Köln untersucht, welche Auswirkung die Fertigstellung und Nutzung der Energietrasse für die Gaspreise hierzulande haben könnte. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die neue Pipeline zusammen mit der Sojus-Trasse den Wettbewerb stärken und damit die Preise senken könnte. "Aus europäischer Sicht ist daher der Betrieb beider Korridore ökonomisch sinnvoll", ist ein Fazit der Studie.
Abbruch des Bauvorhabens kann deutsche Wirtschaft in schlechtes Licht rücken
Ein Ausstieg kurz vor Fertigstellung könnte zudem ein fatales Signal für potentielle wirtschaftliche Kooperationspartner im Ausland aussenden. Es könnte darauf schließen lassen, dass Großprojekte in Deutschland jederzeit politisch gekippt werden könnten, schätzt Politikwissenschaftler Michael Lüders eine mögliche Außenwirkung ein. "Welches asiatische Konsortium beispielsweise würde dann noch bereit sein, in Deutschland zu investieren oder in deutschen Projekte sich co-finanziell zu betätigen?", erklärt der Politikwissenschaftler. Doch ein Scheitern der "Nord Stream 2" hält in der Hafenstadt Sassnitz kaum noch jemand für möglich - trotz der bisherigen Sanktionsdrohungen.
Autoren und Autorinnen: Jana Rogozkina, Matthias Weidner, Johannes Beese
Bearbeitung: Carmen Brehme
Stand: 05.11.2020 10:11 Uhr
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