So., 04.03.18 | 04:10 Uhr
Das Erste
Denis Scheck empfiehlt Joan Didion: "Süden und Westen"
Seit Kindertagen mag ich die USA. Eine regelrechte Affenliebe, die ich mit vielen meiner westdeutschen Generationsgenossen teile. Aus den USA kamen die richtige Musik und die richtigen Filme und die richtige Literatur. Nicht zu vergessen der Vietnamkrieg und der Protest dagegen, Donald Duck, die zum Mond fliegenden Astronauten und die technische Innovation. Ach, und außerdem waren die Amerikaner so nett gewesen, uns im Zweiten Weltkrieg zu besiegen und Hitler und die Faschistenschweine zum Teufel zu jagen, ohne uns in eine Sklavenkolonie zu verwandeln, wie die Russen das in der DDR getan hatten.
Ich habe in den USA studiert und viele Jahre US-amerikanische Literatur übersetzt. Aber begriffen, begriffen habe ich dieses Land erst mit Joan Didion. Die Stärke dieser Autorin ist ihr Blick. Joan Didion bemerkt, was andere übersehen oder für nicht mitteilenswert halten. Ihre Beobachtungsgabe, ihre Empathie und ihr wünschelgängerisch anmutendes Gespür für die verborgenen Wasseradern des American Way of Life haben mich nach den Büchern dieser mittlerweile 84-jährigen Schriftstellerin süchtig gemacht.

In Deutschland bekannt, ja zur Bestsellerautorin geworden, ist Joan Didion mit einem Buch der Trauer und des Abschieds: In "Das Jahr magischen Denkens" beschrieb sie die Erfahrung, den Ehemann zu verlieren. Kurz darauf starb auch ihre Tochter. Jetzt erscheint von Joan Didion ein Band mit dem schlichten Titel "Süden und Westen", in dem Didion über eine lange Reise in die amerikanischen Südstaaten und einen Aufenthalt in San Francisco schreibt.
Was eigentlich nur Notizen zu letztendlich nie geschriebenen Reportagen werden sollten, entpuppt sich heute gelesen als ein veritables Hauptwerk: In dem, was Didion auf- und einfällt, beim Nachdenken über Rassismus, das Gefühl des ewig Zukurzgekommenseins und dem verlorenen utopischen Horizont des Projekts USA liegt nichts weniger als der verborgene Quellcode der USA heute. "Im Süden", schreibt Joan Didion, herrscht eine "Zeitschleife: Der Bürgerkrieg war gestern, aber von 1960 spricht man, als wäre es dreihundert Jahre her."
Wer die USA heute verstehen will, ist bei Joan Didion an der richtigen Adresse. Also vertrauen Sie mir, ich weiß was ich tue, und lesen Sie Joan Didion, "Süden und Westen", erschienen in der Übersetzung von Antje Ravic Strubel im Ullstein Verlag.
Stand: 01.08.2019 07:37 Uhr
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