So., 27.01.19 | 23:35 Uhr
Das Erste
Denis Scheck empfiehlt Chinua Achebe: "Alles zerfällt"
Lange blieb mir die Literatur Afrikas ein Buch mit sieben Siegeln. Hatte der amerikanische Literaturnobelpreisträger Saul Bellow nicht recht, als er vor 25 Jahren einen Skandal auslöste mit der polemischen Formulierung, Papua habe noch keinen Proust hervorgebracht und die Zulus keinen Tolstoi? Bellow hat vieles auf den Punkt gebracht, mit dieser Bemerkung aber stellte sich der studierte Anthropologe dümmer, als er hätte sein können und dürfen. Denn schon 1958 war Chinua Achebes Roman "Alles zerfällt" erschienen und binnen weniger Jahre zur Weltsensation mit Übersetzungen in Dutzenden von Sprachen und einer in die Millionen gehenden Gesamtauflage geworden.
Mit "Alles zerfällt" beginnt die postkoloniale Literatur Afrikas. Geschrieben hat ihn ein damals 28jähriger Nigerianer zwei Jahre vor der Unabhängigkeit seines Landes. Die erzählte Zeit: um 1890. Der Ort: die "neun Dörfer" im Siedlungsgebiet der Igbos am Unterlauf des Nigers. Die Hauptfigur: Okonkwo, ein klassischer Selfmademan, härter, schlauer und kräftiger als die anderen, insbesondere härter, schlauer und kräftiger als sein nichtsnutziger und fauler Vater, von dem sich Okonkwo um jeden Preis abgrenzen möchte.
Wer darf Geschichte erzählen?

"Alles zerfällt" ist eine Geschichte übers Geschichtenerzählen – und über die Macht des Geschichtenerzählens. Denn eines weiß Chinua Achebe ganz genau: nicht nur Geschichte wird von Siegern geschrieben, diese Sieger der Geschichte erzählen am Ende auch die Geschichten. Sein Roman ist ein Versuch einer Gegengeschichte. Er will all die Vorurteile korrigieren, die 300 Jahre Kolonialgeschichte produziert haben, den Knick in der Optik heilen, mit denen Afrika bislang von außen gesehen wurde. Wie kann so etwas gelingen? Indem Chinua Achebe die Geschichte aus der Perspektive der Unterlegenen, Versklavten, Kolonisierten und ins Unrecht Gesetzen erzählt. Und die Ehrlichkeit besitzt, diese selbst als gewalttätige, von Launen, Vorurteilen und Aberglauben gelenkte Menschen zu portraitieren, die im Zweifelsfall lieber zum Mörder werden als sich des Verdachts auszusetzen, gegen ihre Traditionen, Sitten und religiösen Vorstellungen wie etwa dem Willen des Klanorakels zu verstoßen.
Aber Achebe portraitiert sie eben als Menschen, nicht als Klischees: Lebensweisheiten, Sprichwörter und Legenden bestimmen die Erzählsprache dieses Romans: "Der weiße Mann ist listenreich", heißt es an einer Stelle von Achebes Roman. "Er kam ruhig und in Frieden mit seinem Glauben. Wir haben über seine Dummheit gelacht und ihm gestattet zu bleiben. Jetzt hat er unsere Brüder für sich gewonnen, und der Klan kann nicht mehr geschlossen handeln. Er hat ein Messer auf die Dinge gelegt, die uns zusammenhielten, und wir sind zerfallen." Von diesem Zerfall erzählt Chinua Achebes bis heute beeindruckender Roman.
Also vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, und lesen Sie Chinua Achebes "Alles zerfällt", deutsch von Uda Strätling, erschienen bei S. Fischer.
Stand: 27.01.2019 17:47 Uhr
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