So., 30.05.21 | 23:05 Uhr
Das Erste
Belarus: Martinowitschs Roman "Revolution" als Manifest des Widerstands
Ryanair-Flug Nummer 4978. Er hat schon einen Wikipedia-Eintrag. Grund: ein Zwischenstopp in Minsk, heute genau vor einer Woche. Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko ließ den europäischen Linienflug mit Militärgewalt abfangen, um den Journalisten Roman Protassewitsch zu verhaften.
"Ich kann mich an keine Zeit erinnern, die so ausweglos war"

Selten nahm ein Staat seine Bürger so demonstrativ als Geisel. Für den Schriftsteller Viktor Martinowitsch, der in Minsk lebt, ist es ein Rückfall in dunkelste Zeiten:
"Ich kann mich an keine Zeit in meinem Leben erinnern, in der es so ausweglos war – auch damals, als die Sowjetunion zerfiel, war es nicht so ausweglos. Ich war am Wochenende im litauischen Kaunas, auf dem Literaturfestival. Am Sonntag sollte ich mit dem Flugzeug zurückfliegen, und als ich nach Vilnius unterwegs war, erfuhr ich von diesem Vorfall mit Ryanair.
Ich saß im Flughafen und dachte: 'Macht man jetzt den Himmel zu?' Das war sehr beunruhigend. Belarus wird zu Nordkorea. Luftwege werden zugemacht, die Landesgrenzen sind bereits zu. Das ist unsere Lage. Und natürlich bin ich sehr traurig, natürlich habe ich große Angst."
"Schriftsteller sind vielleicht bessere Prognostiker als Politologen"

Protassewitsch war Mitgründer des Telegram-Nachrichtenkanals "Nexta", der vom Warschauer Exil aus die Aktionen der belarussischen Opposition begleitet. Mehr als vier Millionen Einwohner, fast die Hälfte des Landes, haben den Kanal abonniert und verfolgen hier die Eskalation staatlicher Willkür.
Seit den Protesten gegen den Wahlbetrug im Sommer letzten Jahres hat es 35.000 Verhaftungen gegeben, eine unvorstellbare Entwicklung, findet auch Martinowitsch: "Schriftsteller sind vielleicht bessere Prognostiker als Politologen. Weil sie Bücher lesen und nicht nur Nachrichten, haben sie einen gewissen Weitblick. Aber was Belarus in den letzten sechs Monaten erlebt hat, dazu kann ich nur sagen: Das sind Repressionen in Maßstäben, die Osteuropa bisher nicht kannte."
"Camel Travel" – vom Aufwachsen im politischen Umbruch

Auch Schriftstellerin Volha Hapeyeva hält es für "eine Tragödie", was gerade in Belarus passiert: "Wir leben im 21. Jahrhundert und wir haben schon so viel erlebt: Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg. Warum machen Menschen immer noch solche Sachen?"
Die belarussische Lyrikerin Volha Hapeyeva, seit vielen Jahren im Exil lebend, ist zur Buchmesse nach Leipzig gekommen. Mit Verwunderung steht sie vor einem Monument der Vergangenheit: dem stalinistischen Prachtbau des ehemaligen sowjetischen Messepavillons.
Im Gepäck hat sie ihr neues Buch: "Camel Travel", einen Roman ihrer Kindheit in einer Epoche widersprüchlicher Transformationen.

"Wir Kinder", so sagt sie, "konnten drei Epochen sehen und erleben: die Sowjetunion, vier Jahre oder fünf Jahre Unabhängigkeit und die belarussische Renaissance."
Das Buch ist kein nostalgischer Rückblick in die sowjetische Kinderstube, sondern erzählt mit viel Ironie vom Aufwachsen in einem Land zwischen den Zeiten. Wo Lenin noch in den Schulbüchern steht. Wo Urlaub in fernen Sowjetrepubliken gemacht wird. Wo schon das kleine Mädchen beim Fototermin mit Kamel den Bauch einziehen muss. Und wo man Klavierspielen lernt ohne Klavier. Eine Kindheit in Armut und Strenge, in einer postsowjetischen Kultur, die bis heute das Land prägt.
"Revolution" – vom Wesen der Macht
Schriftsteller Viktor Martinowitsch glaubt nicht, dass Lukaschenkos Macht "etwas Zufälliges" ist: "Er ist ein Produkt des sowjetischen Systems, aus dem rührt immer noch seine Macht. Und Macht ist ein sehr tiefes Gefühl. Ein sehr tiefer Instinkt."
Die Transformation der Macht in der ehemaligen Sowjetunion, von der kommunistischen Partei zu einer staatlich-mafiösen Oligarchie, ist auch Gegenstand des Romans "Revolution" von Viktor Martinowitsch. Die hochkomische und turbulente Geschichte eines weltfremden Architektur-Dozenten, den die Mafia erpresst. Er muss "Bitten" genannte Aufträge erledigen und steigt Schritt für Schritt auf der Karriereleiter empor. Aus dem kritischen Geist von einst wird der zynische und brutale Diener eines Geheimordens. Das Buch wurde für viele Belarussen zum Manifest des Widerstands, auch wenn es in Moskau spielt: "Rewaljuzija", "Revolution".
Martinowitsch sieht zwischen Belarus und Russland "große Gemeinsamkeiten": "Beide haben sie sich entschieden, das postsowjetische Erbe zu ihrer neuen Ideologie zu machen. In diesen Ländern ist immer noch alles auf den Idealen gebaut, die Stalin mit dem Gulag erfunden hat. Wenn ich also über das Moskau der Nullerjahre spreche, so spreche ich in meinem Roman natürlich auch über Minsk. Das haben viele Menschen genau erkannt – gerade in der Zeit, als es bei uns zu Unterdrückung und Massenverurteilungen kam."
"Wir dürfen der Angst nicht nachgeben"
Inzwischen wird fast alles als staatsfeindlich eingestuft – sogar wenn die Opposition "Es lebe Belarus!" ruft. Ihre Aktionen finden im Geheimen statt, in Hinterhöfen, an Straßen, wo man schnell verschwinden kann. Heute, neun Monate nach dem Beginn der Proteste, herrscht in Belarus mehr denn je ein Klima der Angst. Auch für Viktor Martinowitsch:
"In den letzten sechs Monaten hatte ich das Gefühl, dass man angefangen hat, unserer Gesellschaft, die gerade aufatmen konnte, die Luft abzuschnüren. Wir reden miteinander und hören einander nicht, als ob wir uns in einem luftleeren Raum befänden. Die wichtigsten Stimmen berühmter Künstler und Schriftsteller sind verstummt, weil jeder Angst hat zu sprechen. Doch wir dürfen dieser Angst nicht nachgeben. Unter diesen Bedingungen ist es die Aufgabe von uns, von uns Schriftstellern, weiterzureden. Die Sachen beim Namen zu nennen. Und uns alles zu merken. Denn früher oder später werden wir uns daran erinnern müssen."
Autor: Rayk Wieland
Stand: 30.11.2021 22:00 Uhr
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