So., 24.01.21 | 23:05 Uhr
Das Erste
Dokfilm: "Der nackte König"
Von der Veränderbarkeit der Welt
Schwer hängen die Vorhänge am Chomeini-Schrein in Teheran. 42 Jahre ist es her, dass der Schah gestürzt und die Islamische Revolution im Iran zur Staatsdoktrin ausgerufen wurde.
Zugleich begannen damals im sozialistischen, von Misswirtschaft geplagten, Polen Arbeiter zu streiken und über ihr Land mitbestimmen zu wollen.
Zwei Revolutionen

Zwei Revolutionen – gewaltig, von Massen getragen, und doch so unterschiedlich – darüber hat der Schweizer Filmemacher Andreas Hoessli einen sehr persönlichen Film gemacht. Eine Gedankensammlung, aus der Ich-Perspektive erzählt:
"Es war mir wichtig, so Hoessli, dass der Film eben kein Gesamtbild ergibt und auch nicht ergeben kann, sondern dass ich einen Versuch unternehme, in diese Geschichten einzutauchen – von der Gegenwart aus."
Treffen mit Reporter-Legende Ryszard Kapuściński
Andreas Hoessli selbst zog 1978 mit einem Stipendium in der Tasche aus der Schweiz in das sozialistische Polen, nach Warschau. Er wollte als junger Historiker jenseits der ideologischen Rhetorik des Kalten Krieges die Strukturen in der Planwirtschaft erforschen.

Hoessli erzählt davon in seinem Film, wie er den ersten Vorsitzenden am 1. Mai Blumen werfen sieht – nichtsahnend, dass dieser Mann nur vier Monate später sein Amt los ist. Er lernt Oppositionelle und bald auch den schon berühmten Reporter Ryszard Kapuściński kennen. Kapuściński war gerade nach Polen zurückgekehrt, nachdem im Iran eine überwältigende Massenbewegung den Shah gestürzt hatte. Der "König der Könige" war nichts mehr. Die Revolution alles.
Hoessli war beeindruckt von Kapuściński, dem Chronisten totalitärer Verhältnisse. Mitte der 1970er-Jahre hatte er in einem Interview des polnischen Fernsehens erklärt:
"Was mich schon immer faszinierte, ist die Möglichkeit der Veränderung der Welt, die Veränderung dessen, was existiert, die Möglichkeit zur Verbesserung der Bedingungen, unter denen die Menschen leben."
Sturz des Shahs im Iran, Polen in Aufruhr

Ein solcher Sturm der Entschlossenheit, die Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und sich einzumischen, der zog nun auch durch Polen: Arbeiter forderten ein Streikrecht, Mitbestimmung, Pressefreiheit.
Für Filmemacher Andreas Hoessli eine besondere Zeit: "Man hatte plötzlich das Gefühl, alles ist gegenwärtig und gleichzeitig ist die Zukunft völlig unbestimmt: Man weiß zwar nicht, was geschehen wird, aber dass etwas geschehen wird."
Aus einzelnen Streikenden entsteht eine Massenbewegung. "Solidarność" wird geboren, eine Gewerkschaft, der bald ein Drittel aller Polen angehört. Auch Reporter Kapuściński lässt sich von der Kraft dieser Bewegung mitreißen:
"In der Stadt herrscht eine neue Moral. Die Menschen sind offen und hilfsbereit. Vollkommen fremde Menschen fühlen plötzlich, dass sie sich gegenseitig brauchen."
Die neue Freiheit währt nicht lange
Im Dezember 1981 erklärt die polnische Staatsmacht den Kriegszustand. Panzer rollen in die Betriebe. Die Revolution wird unwiederbringlich zerschlagen.

Hoessli zitiert in seinem Film immer wieder Texte von Kapuściński – über "Solidarność", über das Berauschende, das Befreiende und das Scheitern, die Erschöpfung – und zeigt dazu Bilder aus der Gegenwart, 40 Jahre später. Er sieht die Revolution als das Wunder, das sie war:
"Worüber soll ich nun schreiben? Darüber, wie das große Erlebnis endete? Das ist ein trauriges Thema. Denn die Revolte ist ein großes Erlebnis. Ein Abenteuer des Herzens. Wir sind zu einem Edelmut fähig, den wir nie für möglich gehalten hätten. Aber es kommt der Moment, da die Stimmung umschlägt und alles zu Ende geht."
Geschichte lässt sich weder auslöschen noch aufhalten
Für den Film beantragte Hoessli Einsicht in seine Stasi-Akten in Polen. Drei Jahrzehnte nach dem Ende des Sozialismus traf er nun nicht nur auf seine Akten, sondern auch auf die, die sie erstellt hatten. Etwa den Geheimdienstmitarbeiter Stefan Piwowar, der ihm sagt: "Man sollte alle Unterlagen und Erinnerungen an die Verfolgung dieser Opposition verbrennen und vergessen. Die haben doch keinerlei Bedeutung für die Geschichte Polens. Keinerlei!"
Doch Geschichte lässt sich weder auslöschen noch aufhalten, auch das erzählt der Film. Auch wenn seine Polen-Bilder düster und neblig sind – auf die Nacht folgt ein Tag.
"Makhba Amerka - Tod Amerika - Tod Israel". Im Iran besucht Hoessli den inzwischen 40. Jahrestag der Revolution und ist gleichermaßen verwundert und abgestoßen von ihrer Vereinnahmung durch staatlich vorgegebene ideologische Worthülsen. Für ihn ein Zeichen dafür, "dass diese Revolution einfach nicht vorbei ist".
"Die Welt ist veränderbar"
"Der nackte König" heißt Hoesslis beeindruckendes Filmessay, frei nach dem Märchen von Hans Christian Andersen. Endlich kommt der Moment, an dem keine Verabredung mehr gilt und jemand rufen wird: "Der König ist ja nackt!"
Denn: Die Welt ist ja veränderbar.
Autor: Dennis Wagner
Stand: 26.01.2021 15:41 Uhr
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