So., 15.01.23 | 23:05 Uhr
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Holocaust-Überlebende Tova Friedman und ihr TikTok-Kanal gegen das Vergessen
Als die Rote Armee Auschwitz am 27. Januar 1945 befreite, wusste sie zunächst nicht, was sie erwartet... Überall lagen Leichen. Und zwischen ihnen irrten Menschen umher. Es brauchte einige Wochen, bis die Rote Armee die Überlebenden so weit mit Essen versorgt hatte, dass sie wieder laufen konnten – für diese Bilder, die ein sowjetischer Kameramann von ihnen machte. Darunter 180 Kinder. Man bat sie, ihre Ärmel hochzuziehen und ihre tätowierten Häftlingsnummern vorzuzeigen. Mit dabei auf diesem historischen Filmdokument die sechsjährige Tova Friedman.
Durch einen Bürokratiefehler den Holocaust überlebt
Die heute 84-Jährige lebt in den USA, in New Jersey. Dass Tova Friedman dem Holocaust entkam ist mit dem Wort "Glück" nicht restlos zu erklären. "Ich überlebte durch ein Wunder, nur durch ein Wunder. Alle anderen Kinder – 1,5 Millionen Kinder – wurden im Holocaust ermordet", sagt Tova Friedman. "Ich hatte Glück. Also muss ich jetzt eine Zeugin sein für sie, für das, was ihnen angetan wurde. Denn sie sind nicht mehr da, um zu erzählen."

Tova Friedman war drei Jahre alt, als die Deutschen in ihre Heimat, die polnische Kleinstadt Tomaszów Mazowiecki, einfielen. Von da an musste sie mit ihren Eltern und 13.000 anderen Juden zusammengepfercht im Ghetto der Stadt leben. Sie erinnert sich in ihrem Buch "Ich war das Mädchen aus Auschwitz" an große SS-Männer in schwarzen Uniformen mit riesigen Hunden und an das ständige Sterben in den Häusern und auf den Straßen. "Von dem Moment an, da ich denken konnte, Erinnerungen habe, als ich sodrei Jahre alt war, wusste ich nur eins: Juden haben zu sterben", erinnert sich Tova Freidman. "Und Sie kennen ja Hitlers wahnsinnigen Plan: Hinterlasst keine Zeugen, tötet jeden, zerstört alles, verbrennt alles."
Im Spätherbst 1944, Tovas Vater war nach Dachau deportiert und sie in Auschwitz von ihrer Mutter getrennt worden, musste sie zusammen mit 50 Kindern den Weg zur Gaskammer antreten. "Sie brachten uns zur Gaskammer, wir mussten uns im Vorraum ausziehen und warten – in eisiger Kälte", erinnert sich Tova Fiedsman. "Ich wusste, dass es nun in einen Raum geht, aus dem man nicht mehr rauskommt. Ich sah den Raum mit dem kleinen Fenster. Ich erinnere mich nicht an alle Details – ich weiß nur: Es war furchtbar kalt und die Kinder um mich weinten." Plötzlich brüllten die SS-Männer, dass alle wieder raus sollen. Tova Friedman erinnert sich, dass einer sagte: "Das ist der falsche Block, die kommen später dran." Der deutschen Vernichtungsbürokratie war ein Fehler unterlaufen.
TikTok als "großartiger Ort" für Geschichte

Im Sommer vergangenen Jahres reiste Tova Friedmann mit fünf ihrer acht Enkel nach Auschwitz. Einer von ihnen – Aron – filmte diesen Besuch. "Als ich dann wieder zurück in der Schule war, wollte ich irgendwas mit dem Drehmaterial machen", sagt Aron Goodman, der Enkel von Tova Friedman. "Also habe ich daraus einen Film geschnitten und ihn auf Youtube hochgeladen. Und damit begann alles. Ich hab dann Teile daraus auf TikTok gestellt und wir bekamen ein sehr großes Feedback. Und ich hab’ zu Großmutter gesagt: Lass uns Videos drehen. Die Leute auf TikTok reden über den Holocaust – das ist ein großartiger Ort, deine Geschichte zu erzählen."
Auf tiktok.com/@tovafriedman erzählt Tova Friedman: "Das war ja Hitlers Endlösung: Die Leute zu vergasen ging viel schneller, als sie zu erschießen oder sie auf andere Art zu töten. In zehn Minuten kann man 500 Leute umbringen, dann verbrennt man sie einfach und die Asche braucht sehr wenig Platz."
"Ich hatte vorher nie was von TikTok gehört bis mein Enkel mir davon erzählt hat", sagt Tova Friedman. "Viele wollten meine Häftlingsnummer sehen – sie sagten: 'Ist das wirklich passiert? Zeigen sie mal ihre Nummer!' Sie waren geschockt, sie haben noch niemals davon gehört."

Aron Goodman meint: "TikTok ist nicht nur dafür da, Geschichten zu verbreiten. Es ist auch dafür da, Fragen zu beantworten. Und eine Menge unserer Videos sind Antworten auf Fragen, die wir bekommen haben. Das sind nicht nur ein oder zwei Leute aus meiner Stadt – wir reden hier von 60 Millionen Menschen weltweit."
Holocaust-Literatur in den Lehrplänen nicht verbindlich
Tovas Eltern überlebten – aber 150 Familienmitglieder nicht. Wie verhindern wir, dass Geschichten wie ihre vergessen werden? Der einzige Ort ist die Schule – diesen Ort besuchen alle nachkommenden Generationen. Aber ausgerechnet in Deutschland, wo die "Endlösung" erdacht wurde, kommt Holocaust-Literatur in den Lehrplänen nicht verbindlich vor. Der Germanistik-Professor Sascha Feuchert hat jetzt zusammen mit dem Verband der Deutschlehrer einen offenen Brief an die Kulturministerkonferenz verfasst. Darin wird Holocaust-Literatur als verpflichtender Bestandteil der Deutschlehrpläne gefordert. "Also ich glaube, dass der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, sicherlich die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie waren, als wir sehr, sehr schiefe Vergleiche gesehen haben. Wenn Sie sich erinnern an dieses Mädchen, das seinen Geburtstag, den es in Isolation verbringen musste, mit Anne Frank verglichen hat", sagt Sascha Feuchert , Leiter Arbeitsstelle Holocaust-Literatur an der Universität Gießen. "Das waren alles so Erscheinungen, die uns deutlich gemacht haben, es ist jetzt wirklich an der Zeit, dass wir Dinge ändern müssen. Diese Rede davon, irgendwann müsse mal Schluss sein oder irgendwann hat man die Lektion gelernt – das tut ja so, als gäbe es keine nachwachsenden Generationen mehr. Aber ich glaube nicht, dass wir aufhören dürfen, darüber zu erzählen. Denn was wäre die Alternative? Wenn wir über den Holocaust aufhören zu sprechen und zwar relevant zu sprechen, gesellschaftlich relevant zu sprechen, dann ist er irgendwann weg. Und was weg ist, das kann sich möglicherweise auch wiederholen."
Jene, die Hitlers "Endlösung" überlebt haben werden uns verlassen. Erinnerungen, wie die von Tova Friedman, können uns einen Zugang eröffnen zu dem, was wir bis heute als "unvorstellbar" und "unbegreiflich" beschreiben. "Mir wurde klar, dass ich mich mit dem Buch beeilen muss, wer weiß, wie viel Zeit ich noch habe", sagt Tova Friedman. "Viele der Holocaust-Überlebenden sterben jetzt. Ihre Geschichten drohen verloren zu gehen. Und ich möchte nicht, dass sie verloren gehen."
Autor: Ulf Kalkreuth
Stand: 17.01.2023 10:35 Uhr
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