So., 10.07.22 | 23:05 Uhr
Das Erste
Dokumentation: "Mariupolis 2"
In Erinnerung an den litauischen Filmemacher Mantas Kvedaravicius

Überall in Kaunas finden sich Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Die empfand auch der litauische Regisseur Mantas Kvedaravicius. Er reiste im März 2022 nach Mariupol, in die unter schwerem Beschuss liegende Stadt am Schwarzen Meer, um den Überlebenskampf der Einwohner festzuhalten. Nicht als Kriegsreporter, sondern als Dokumentarfilmer.
"Bitte versuche nicht, mich davon abzuhalten"

Nur die engsten Freunde wussten, dass er nach Mariupol fuhr. Seine Freundin Elena Pranckėnaitė erzählt: "Ich wusste, dass er da war. Bevor er fuhr, rief er mich an und sagte: 'Bitte versuche nicht, mich davon abzuhalten und werde nicht sauer! Aber ich muss da hin.'" Ihm begegnet das pure Grauen. So trifft er einen alten Mann, der ihm, wie später im Film zu sehen ist, erzählt: "Beim Einschlag der Bombe wurde der Hausbesitzer in Stücke gerissen und blieb auf meinem Dach hängen. Er hing da, drei Tage. Er hatte noch weiße Gartenhandschuhe an. Sein Gesicht war weg, nur der Hinterkopf war da. Nach drei Tagen holte ich ihn runter, legte ihn in eine Schubkarre und in seinen Hof."
Die unfassbare Grausamkeit des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine – Kvedaravicius will dort sein, wo die Opfer sprechen. Sein Co-Produzent Thanassis Karathanos sagt: "Mantas war nicht der Heldentyp. Aber er war mutig. Ich glaube diesmal, bei "Mariupolis 2", hat er die Situation falsch eingeschätzt. Und ich glaube: Ja, er hatte Angst."
Erster Mariupol-Film entsteht 2014

Gewalt und Folter in Ländern der ehemaligen Sowjetunion waren Kvedaravicius' Thema. So wie in Tschetschenien: 2011 erzählt er im Dokumentarfilm "Barzakh" vom Überleben mitten im Krieg. In die Ukraine fuhr er das erste Mal bereits 2014, um die Belagerung der Stadt durch pro-russische Separatisten festzuhalten.
Ein Film wie ein Vorbote des heutigen Kriegs. Dafür wurde Kvedaravicius, ein in Cambridge promovierter Anthropologe, mit vielen Preisen geehrt, zuletzt 2011 auf der Berlinale. Thanassis Karathanos: "Sein Thema war, Menschen zu zeigen in sehr harten Situationen, Extremsituationen wie eben im Krieg."
In der Falle
Die Wirklichkeit des Krieges: Kvedaravicius beobachtet sie wie ein Feldforscher. Drei Wochen lang dokumentiert der Filmemacher das Überleben in Mariupol, Menschen, die in einer Kirche in der Nähe des Asow-Stahlwerks Zuflucht gefunden haben. Er selbst übernachtet und lebt mit ihnen im Keller. Eigentlich will er auch Protagonisten seines ersten Mariupol-Films aufsuchen. Doch er sitzt, wie alle, in der Falle. Seine Assistentin und Verlobte, Hanna Bilobrova, ist mit dabei. Viele der Bilder zeigen nur Warten und das Hören auf die Einschläge.
Ermordet beim Versuch, Menschen bei der Flucht zu helfen

Ende März wird Kvedaravicius beim Versuch getötet, Menschen bei der Flucht zu helfen. Russische Soldaten hätten ihn brutal ermordet, sie hätten ihn für einen litauischen Sniper gehalten – so erzählt es seine Verlobte Hanna später den Medien. Sie barg seine Leiche. Ihr gelang es, das Film-Material nach Litauen zu bringen. Das Produktionsteam um Kvedaravicius' Freund Mindaugas entschloss sich, den Film fertigzustellen.
Mindaugas Galkus sagt dazu: "Mantas war oft in schwierigen Situationen, doch er hatte immer alles Kontrolle. Aber diesmal war es einfach anders!"
Zeitdokument und Mahnung: "Er wollte Zeugnis ablegen"
Elena Pranckenaite erinnert sich: "Wenn er eine Idee hatte, an die er glaubte, verfolgte er sie so beharrlich, er wollte in aller Tiefe verstehen, die Wirklichkeit analysieren. Er wollte aufdecken, Zeugnis ablegen."

Mit der Beobachtungsgabe des Anthropologen hat uns Kvedaravicius mit seinem Film ein schwer auszuhaltendes Zeitdokument hinterlassen. Und eine Mahnung, die sein Freund Mindaugas Galkus so interpretiert:
"Wir teilen viel Geschichte mit Russland, und wissen, was es bedeutet, als Nachbarn von Russland zu leben. Vielleicht ist das für Deutsche schwerer zu verstehen. Aber wir wissen: "Wenn die Ukraine fällt, könnten wir als Nächste dran sein."
Autorin: Brigitte Kleine
Stand: 12.07.2022 12:22 Uhr
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