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Martha Nussbaum – "Gerechtigkeit für Tiere"

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Martha Nussbaum - "Gerechtigkeit für Tiere" | Video verfügbar bis 27.02.2024 | Bild: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Erst im Verhältnis zum Tier zeigt sich die wahre Natur des Menschen. Worin bestehen die Ähnlichkeiten? Wo liegen die Unterschiede? Ist das Tier dem Menschen untertan? Dass Tiere – genau wie wir Menschen – ein Anrecht auf ein „gutes Leben“ haben, ist an sich kein neuer Gedanke. Der Mensch soll dem Tier kein Leid, keinen Schmerz zufügen, sagen Philosophen wie Peter Singer.

Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hält diesen zweckorientierten Ansatz für nicht ausreichend. Sie vertritt die These, dass jedes Tier in der Lage sein muss, all seine Art-spezifischen Fähigkeiten auszuleben. "Wenn man an einen kleinen Elefanten denkt, der in einem human geführten Zoo aufwächst, dann fühlt er wahrscheinlich keinen Schmerz, aber er weiß nicht, was er vermisst. Und das ist das Problem mit dem utilitaristischen Ansatz", erklärt die Philosophin Martha Nussbaum. "Wir brauchen eine objektivere Herangehensweise, eine, die alle möglichen Fähigkeiten mit einbezieht, die zum normalen Leben eines Tieres gehören. Wenn ein Tier die nicht hat, dann ist es beraubt, auch wenn es keinen Schmerz fühlt."

Keine Hierarchie in der Natur

Martha Nussbaum, Philosophin
Martha Nussbaum, Philosophin | Bild: MDR/ttt

Von Elefanten wissen wir schon seit langem, dass sie in sozialen Gruppen leben, dass sie voneinander lernen. Sie spielen und trauern wie wir. Aber die Ähnlichkeit zum Menschen ist für Martha Nussbaum kein ausreichender Grund, ein gerechtes Miteinander von Mensch und Tier zu fordern. Denn viele Tierarten, auch Vögel und Wirbellose, verfügen über komplexe Fähigkeiten, die mehr sind als nur Instinkt. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung. "Es gibt keine Hierarchie in der Natur. Jedes Tier hat eine andere Art Sicht auf die Welt, innerhalb seiner eigenen ökologischen Nische", erklärt Martha Nussbaum. "Anders gesagt: Wenn wir jemandem etwas Gutes tun wollen, ganz gleich ob Mensch oder Tier, dann sollten wir das um seiner selbst Willen tun. Und nicht, weil wir Menschen etwas besonderes wären."

Natur als Rechtssubjekt?

Martha Nussbaum, die an der Universität von Chicago Recht lehrt, widmet ein Kapitel ihres neuen Buches "Gerechtigkeit für Tiere – Unsere kollektive Verantwortung" dem mangelhaften gesetzlichen Schutz der Tiere in den USA. Aber auch in Deutschland ist die Situation nicht wesentlich besser. Der Rechtswissenschaftler Jens Kersten fordert deshalb, Tiere zum Rechtssubjekt zu machen: "Ein Punkt, den Frau Nussbaum anspricht, ist die politische Repräsentation. Hier gilt der ganz einfache Grundsatz: Nur wer später klagen kann, der wird auch im politischen Prozess gehört", erklärt Jens Kersten, Professor für Rechtswissenschaften. "Da das allerdings im Augenblick nicht der Fall ist, haben auch von vornherein bei Repräsentation strukturell die Natur und die Tiere das Nachsehen bei uns. Im Zweifel werden sie entweder überhaupt nicht wahrgenommen oder weggewogen, weil sie dann später nicht die Möglichkeit haben, über ihre Rechte ihre Interessen einzuklagen gegenüber einer nicht angemessenen, nicht effektiven ökologischen Gesetzgebung."

Frage des politischen Willens

Jens Kersten, Professor für Rechtswissenschaften
Jens Kersten, Professor für Rechtswissenschaften | Bild: MDR/ttt

Tiere als Kläger vor Gericht, vertreten von einzelnen Menschen oder aber einer Organisation – eine Vorstellung, die unserer Gesellschaft einiges abverlangt. In Ecuador ist es bereits seit 2008 möglich. Damals wurde die Natur als Rechtssubjekt in die Verfassung aufgenommen. Seitdem wurden dort dutzende Verfahren angestrengt. "Also prinzipiell ist die Frage der Anerkennung von natürlichen oder juristischen Personen eine Frage der Verfassung", sagt Jens Kersten. "Und wir machen das auch: die Anerkennung als juristische Personen im Fall von beispielsweise sozialen Vereinen oder von ökonomischen Personen GmbH und Aktiengesellschaften. Und nichts anderes müssten wir eigentlich und können wir bei der Natur und den Tieren machen. Was mit totem Kapital funktioniert, das funktioniert erst recht bei Lebewesen." Das sei juristisch kein Problem, meint Kersten. "Es ist eine Frage des politischen Willens vor dem Hintergrund einer notwendigen ökologischen Transformation unserer Gesellschaft." Ohne ökologisches Umdenken wird das Artensterben weitergehen. Nicht nur der Berggorilla, auch viele Amphibien und Insektenarten sind vom Aussterben bedroht oder bereits verschwunden.

Staunend zum nächsten Schritt

Martha Nussbaum, und das ist das Bemerkenswerte an ihrem Buch, fordert Gerechtigkeit nicht im Interesse einer Gattung, sondern für jedes einzelne Tier in seiner Einzigartigkeit. "Ich glaube, wir alle müssen die Fähigkeit des Staunen in uns erwecken. Das Staunen ist die eine große Emotion, die sich nicht auf uns selbst bezieht, sie richtet sich nach außen, auf etwas, was ganz anders ist als wir", sagt Martha Nussbaum. "Und das Staunen erweckt die Neugier. Schon Aristoteles sagte: Wir wollen wissen, wie etwas funktioniert. Und gerade jetzt gibt es so viele neue Bücher von Wissenschaftlern, mit wunderschönen Bildern, es gibt Dokumentarfilme. All das kann uns helfen, den nächsten Schritt zu machen."

Vielleicht hilft das Staunen über die Fähigkeiten der Tiere ja tatsächlich dabei, ihnen endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Auch oder vielleicht gerade im Interesse unseres eigenen Überlebens.

Autorin: Petra Böhm

Martha C. Nussbaum
Gerechtigkeit für Tiere
Unsere kollektive Verantwortung

WBG Theiss, Darmstadt 2023
ISBN 9783806245592
Gebunden, 416 Seiten, 35 EUR

Stand: 16.05.2023 12:10 Uhr

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