So., 24.01.21 | 23:05 Uhr
Das Erste
"Paradigma"
Das Bayerische Staatsballett feiert Online-Premiere
In der Münchner Staatsoper mit ihrem Staatsballett finden pandemiebedingt derzeit keine Vorstellungen statt. Und doch hieß es Anfang Januar: "Licht aus, Spot an" für "Paradigma", einen dreiteiligen Ballettabend – kraftvolles, mitunter minimalistisches Tanztheater. Thema, so laut Programm: die "Begrenzungen durch eine Situation".
Tanzen gegen die Leere

Im Lockdown tanzt das Ballett vor leerem Haus. Serge Honegger, Dramaturg des Bayerischen Staatsballetts, sieht in der Online-Aufführung zunächst vor allem eine Herausforderung:
"Für die Tänzer selbst ist es eine schwierige Aufgabe, ohne Reaktion aus dem Publikum auf der Bühne aufzutreten. Denn die Bühne ist eine Gefahr, sie ist ein Risiko. Damit verbunden ist dieser einmalige Moment, vor einem über 2.000 Leute zählenden Publikum hier in der Bayerischen Staatsoper zu stehen. Und das fällt alles weg."
Sehnsucht nach der besonderen Energie
Bretter, die die Welt bedeuten: Nichts trauriger als eine leere Bühne, ein leeres Parkett. Um das Haus am Leben und das Publikum dabei zu halten, zeigte die bayerische Staatskompagnie "Paradigma" erstmals als Live-Premiere im Internet.

Die britische Solistin Laurretta Summerscales ist glücklich über jeden Moment, den sie tanzen kann. Doch sie vermisst die besondere Energie, die sie sonst im Dunkel jenseits der Bühne spürt:
"Manchmal höre ich die Leute im Saal nur leise, manchmal höre ich sie auch gar nicht. Aber mit dem Schlussapplaus geben sie mir all meine Kraft zurück. Schon bevor der Vorhang aufgeht, höre ich das Gewusel im Parkett und das Lampenfieber steigt: Es ist dieser schmale Grat, ja, die Gefahr, der unwiederholbare Moment."
Kurzfristiger Umzug ins Virtuelle
Bei den Proben im Herbst 2020 ist noch eine "Paradigma"-Premiere vor Publikum geplant. Doch "die Situation" macht die Hoffnung zunichte. Im November kommt der zweite Lockdown. Muss die Premiere ausfallen oder kann sie trotz Corona stattfinden? Die Münchner entscheiden sich für das Experiment, den Umzug vom analogen in den virtuellen Theaterraum via Livestream.
Serge Honegger lobt die Kreativität der Choreographen und die Flexibilität aller Mitwirkenden: "Die Planungsprozesse, die bei uns teilweise über zwei bis vier Jahre verlaufen, wurden komplett über den Haufen geworfen. Da hat man einfach gesehen, dass es immer Bewegungsspielraum gibt. Und das haben wir auch in 'Paradigma' abzubilden versucht."
"Dass wir andere Zugänge zum Publikum suchen, das ist das Gebot"
Die für das Internet neu choreographierte Produktion sahen weltweit 21.000 Zuschauer. Das entspräche also etwa einem zehn Mal ausverkauften Haus. Feedback gab es aus Augsburg, Moskau und São Paulo: Liebeserklärungen an das Ballett, Hoffnung auf ein Wiedersehen – am liebsten im Theater.

"Paradigma" scheint wie eine Erkundung des Möglichen: Muss sich auch im Theater alles ändern, damit es lebendig bleibt? Der Intendant der Bayerischen Staatsoper Nikolaus Bachler sieht eine Chance in neuen Wegen: "Zurückzukehren zu dem, was war, das geht nicht. Das gibt's im Leben nicht. Dass wir in virtuelle Räume, in abstrakte Situationen gehen, dass wir andere Zugänge zum Publikum suchen, das ist das Gebot ohnehin, grundsätzlich."
Schauspiel Frankfurt produziert Mini-Serie fürs Netz
Auch im Schauspiel Frankfurt sind die Lichter aus. Die nächsten Aufführungen finden – vielleicht – Ende März statt. Doch hinterm geschlossenen Vorhang, unter dem Bühnenboden, bewegt sich was. "Eternal Peace" heißt das Stück, das die Theatermacher nach der wegen Corona geplatzten Premiere zu einer Science Fiction-Serie umstrickten. Sie spielt in einer Welt in 100 Jahren: Europa, auch Frankfurt, sind durch Klimakriege verwüstet. Forscher erkunden das Vermächtnis der Vergangenheit.

"Es genügte uns nicht, das jetzt einfach fürs 'Eisfach' zu produzieren, um es es dann vielleicht irgendwann mal aufzutauen", sagt Alexander Eisenach, Autor und Regisseur im Schauspiel Frankfurt, über das Projekt: "Wir wollten trotzdem rausgehen mit der Arbeit, die wir gemacht haben, aber ohne einfach ein Theaterstück abzufilmen. Wir haben uns entschieden, etwas zielgerichtet für das Netz zu produzieren."
Echtes Theatererlebnis nicht zu ersetzen
Eine theatrale Vision, halb Dystopie, halb Utopie auf Youtube: Was bleibt in der Miniserie von der Aura, eben dem magischen Potential des Theaters? In diesem gelungenen Versuch: verblüffend viel. Dennoch sieht Eisenach darin keinen Ersatz für das echte Theatererlebnis:
"Ich glaube, dass es jetzt wichtig für uns ist, nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir wirklich aus unseren Theatern heraus kommunizieren können. Ich glaube aber nicht, dass das eine an die Stelle des anderen tritt. Die Sehnsucht, die alle nach einem Theatererlebnis haben, die habe ich auch ganz stark."

Zurück in München beim Bayerischen Staatsballett. Noch bis Anfang Februar ist der Ballett-Abend online zu sehen: "Paradigma" hat den Spielraum der Bühne erweitert, vom Corona-Drama gesetzte Grenzen überwunden. Doch auch Nikolaus Bachler sieht im direkten Kontakt mit dem Publikum das, was das Theater ausmacht:
"Es geht darum, was wir den Menschen erzählen wollen. Ob wir es tanzend machen oder singend, ob wir's spielend in einem Theaterstück machen – es geht immer um die Botschaft. Und dahingehend suchen wir nach Wegen, wie wir Menschen erreichen. Der direkte Kontakt wird dabei immer im Zentrum bleiben, wie schon seit 2.000 Jahren!"
Kreativität statt Lamento

2021 bleibt Kontakt, wie's aussieht, schwierig. Lauretta Summerscales vermisst die Zuschauer: "Wenn ich tanze, gebe ich euch meine Seele. Ich möchte, dass ihr mich liebt, dass ihr liebt, was ich mache. Ich richte mich auf das Publikum aus. Digital geht das nicht, also tanze ich für mich allein – immerhin, es gibt mir eine neue Freiheit."
Pandemie und Politik muten der Kultur gerade viel zu. Die sucht nach neuen Perspektiven, nicht nur bei Tanz und Theater. Kreativität statt Lamento: Wer weiß, wo das endet?
Autor: Andreas Lueg
Stand: 26.01.2021 15:39 Uhr
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