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Rechtsruck reloaded?

Italien 100 Jahre nach Mussolini

PlayTitel Thesen Temperamente: ITALIEN / Rechtsruck reloaded? Italien 100 Jahre nach Mussolini
Rechtsruck reloaded? Italien 100 Jahre nach Mussolini | Video verfügbar bis 04.09.2023 | Bild: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Im Oktober erlebt Italien ein düsteres Jubiläum. Vor 100 Jahren schwang sich Benito Mussolini an die Macht: ein Kriegsverbrecher und Despot, der Zehntausende von politischen Gegnern umbrachte oder in Lager steckte.

Das Schreckensregime brach 1945 zusammen. Doch in den Nischen der italienischen Nachkriegsgesellschaft lebte der Mythos vom Duce und seinen Schwarzhemden weiter.

Meloni: "Entspanntes Verhältnis zum Faschismus"

Rechte Demonstranten in Italien: Fratelli d'Italia
Anhänger der postfaschistischen Partei Fratelli d‘Italia  | Bild: IMAGO / Antonio Balasco

Georgia Meloni hat ein, wie sie sagt, "entspanntes Verhältnis" zum Faschismus. Nun macht sich die Generation der Urenkel daran, mit ihrer postfaschistischen Partei "Brüder Italiens" die Regierung zu übernehmen. Parteichefin Giorgia Meloni ist eine emanzipierte Frau, mit Lust zur Attacke.

Ihre Parolen: "Schluss mit der Immigration aus den islamischen Ländern! Ja zur herkömmlichen Familie! Nein zur Lobby der LGTB! Nein zur Gender-Dikatur!" Kultur heißt für sie, die "nationale Identität und nationale Traditionen" zu verteidigen.

Alte Denkmuster: "Ideologie der Überlegenheit"

"Wie faschistisch die Meloni ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich weiß, dass sie eine Frau der extremen Rechten ist, und dass sie selbst daran glaubt", sagt die deutsch-italienische Schriftstellerin Helena Janeczek. Und der Historiker Francesco Filippi erklärt: "Patriotismus, die Ideologie der Überlegenheit: Das ist die Konzentration auf sehr alte und auch sehr belastete Denkmuster. Slogans wie 'Gott, Vaterland, Familie' stammen ja offensichtlich aus den dunkelsten Jahren unserer Geschichte, sie sind aber heute fester Bestandteil ihres Wahlkampfs."

Aus ihrem propagandistischem Stakkato zimmerten ihre Gegner einen Youtube-Mix. Meloni dagegen nutzte ihn für ihre eigenen Zwecke. Sogar ihre Autobiografie versah sie mit dem inzwischen zum Hit gewordenen Titel: "Ich bin Giorgia!"

Historiker Francesco Filippi: "Italien hat Bruch mit der Vergangenheit versäumt"

Historiker Francesco Filippi analysiert das Erbe der Mussolini-Zeit
Historiker Francesco Filippi analysiert das Erbe der Mussolini-Zeit | Bild: ttt

Der Trienter Historiker Francesco Filippi glaubt, dass Italien den Bruch mit seiner faschistischen Vergangenheit versäumt hat. In seinem Buch "Mussolini hat Gutes getan?" setzt er sich mit den weiterwirkenden Mythen der schwarzen Zeit auseinander. Meloni sieht er als Leitfigur einer modischen Aufwertung der Vergangenheit.

"Der Faschismus des 21. Jahrhunderts ist kein Faschismus mehr der schwarzen Mützen. Hoffen wir, dass es nicht einmal ein Faschismus wird, der die Menschen in Straßenkämpfe verwickelt. Denn verfolgt wird eine Politik, die sich an der Rhetorik und Brutalität der Zwanziger Jahre orientiert. Eine Politik, die mit den Schlagworten dieser Vergangenheit eine Zukunft errichten will."

Melonis doppeltes Spiel: Zwischen EU-Parlando und faschistischer Nostalgie

Die Ambivalenz der "Königin des Postfaschismus", wie sie betitelt wurde, dürfte auch Europa noch in Erstaunen versetzen. Vor der internationalen Presse demonstriert sie ihre Vielsprachigkeit, parliert auf Englisch, Spanisch, Französisch. Ein Wink auch an die Europäische Gemeinschaft, auf deren finanzielle Unterstützung sie nicht verzichten will.

Schriftstellerin Helena Janeczek im ttt-Gespräch
Schriftstellerin Helena Janeczek im ttt-Gespräch | Bild: ttt

Allerdings: Auf dem Parteisymbol der faschistischen Flamme, die an die Flamme auf Mussolinis Grabmal erinnert, hält sie beharrlich fest, wie die deutsch-italienische Schriftstellerin Helena Janeczek betont: "Diese Flamme steht für die Kontinuität in der Geschichte des Neofaschismus. Sie steht für eine faschistische Nostalgie, die im Laufe der Zeit immer stärker wurde, immer neue Nahrung erhielt, mit einem Gefühl der Hoffnung aufgeladen wurde – viel stärker als es beim Kommunismus oder Sozialismus der Fall ist."

Janeczek sieht in Melonis Programm den verzweifelten Versuch einer Abschottung von der Moderne. Das pseudo-heroische Pathos der Mussolini-Ära dagegen ist nicht mehr erkennbar.

Mussolini: Groteske Verehrung in Italien bis heute

Francesco Filippi über die Mussolini-Mythen
Francesco Filippi über die Mussolini-Mythen | Bild: ttt

In Mussolinis Geburtsort floriert der Devotionalienhandel, es herrscht eine groteske Verehrung des Duce und seiner Ära. Diese Tür ist stets offen geblieben. Meloni kokettiert mit diesen politischen Sehnsüchten, wie der Historiker Francesco Filippi betont:

"Dass sich diese Partei zum direkten Erben des Faschismus erklärt hat, bereitet den meisten Italienern keine Sorgen Dies gilt sowohl für rechts als auch für links. Wenn man Giorgia Meloni heute in Italien eine Faschistin nennt, dann wird sie dadurch weder eine Stimme gewinnen noch verlieren. Und das sollte uns Italiener und Europäer zum Nachdenken anregen."

Meloni ist permanent im Kampfmodus, flankiert von Salvini und Berlusconi, zwei Alpha-Tieren des Politikbetriebs. Für diese stehe sie als "Püppchen" nicht zur Verfügung, hat sie bereits angekündigt.

Autoren: Marina Collaci, Reinhold Jaretzky

Stand: 05.09.2022 15:07 Uhr

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