So., 05.09.21 | 23:05 Uhr
Das Erste
Reenactment des NSU-Prozesses beim Kunstfest Weimar
Theatrale Spurensuche in 17 Kapiteln an 17 Tagen
Schon am Eingang zum Theatersaal in der Weimarer Nietzsche-Halle stellen sie sich einem in den Weg, die Bilder der Opfer der rechtsextremistischen Terrorzelle NSU: zehn Menschen, heimtückisch ermordet aus rassistischen Gründen.

"438 Tage NSU-Prozess" heißt der Abend, der mit dem Vortrag der Gerichtsprotokolle die Geschichte der Opfer und die ihrer Angehörigen in den Mittelpunkt stellen will.
Ein Schauspieler liest die Aussagen eines Sohnes, der seinen Vater verlor: "Hoher Senat, ich war 13 Jahre alt, als mein Vater umgebracht wurde. Niemand sagte mir etwas Näheres, als er auf der Intensivstation lag. Je mehr ich mich ihm näherte, bemerkte ich drei blutverschmierte Löcher in seinem Gesicht und weitere in seiner Brust."
"Dein Vater muss doch was dazu beigetragen haben"

Schauspieler und Laiendarsteller lesen aus den Gerichtsprotokollen, die von der Organisation "NSU Watch" angefertigt wurden. Im Anschluss: Diskussionen mit Politikern, Opfern, Hinterbliebenen. Zugeschaltet aus der Türkei, wo sie seit einigen Jahren mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt, ist Semiya Şimşek Tochter von Enver Şimşek, dem ersten Mordopfer des NSU. "Vor dem NSU hatte ich eine ganz andere Sichtweise. Ich habe an die Demokratie geglaubt. Aber wenn man wirklich in meiner Situation ist … Man hat uns damals ungläubig angeguckt: Dein Vater ist erschossen worden, mit neun Schüssen, der muss doch was zu beigetragen haben."
So wie Familie Şimşek wurden auch andere Opfer verdächtigt, in Bandenkriminalität verwickelt zu sein. Der nüchterne Vortrag der Prozessprotokolle dokumentiert die Ungeheuerlichkeit der Taten – und die fatalen Fehleinschätzungen der Ermittler.
"Diese Morde haben etwas mit uns zu tun"

Für Regisseur Nuran David Çalış ist die Theaterbühne eine Art "Befragungsraum" und "Gedächtnisspeicher": “Wir wollten den verschiedenen Menschen ein Angebot machen: 'Lasst uns gemeinsam nachdenken!' Diese Morde haben etwas mit uns zu tun, ihre Geschichten haben etwas mit uns zu tun."
Der Prozess dauerte fünf Jahre, 438 Prozesstage. Vor kurzem erst wurde der Revisionsantrag Beate Zschäpes abgelehnt. Das Urteil ist rechtskräftig.
Die Wut der Opfer und ihrer Angehörigen über die Ermittlungen, die geschredderten Akten, die dubiose Rolle der V-Männer, hält bis heute an. Haben der beispiellose Prozess und seine Aufarbeitung Auswirkungen auf die breite Öffentlichkeit und die Politik? Journalist Martín Steinhagen, der seit Jahren zu den Quellen und Netzwerken des rechten Terrors recherchiert, glaubt, dass die Gefahr mehr ins Bewusstsein gerückt ist: "Ich glaube schon, dass der Schrecken über diese Taten dazu beigetragen hat, dass das Thema rechte Gewalt deutlicher wahrgenommen und mehr darüber gesprochen wird. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass zu wenig in politischer Hinsicht passiert ist."
Rechter Terror als größte Bedrohung in Deutschland

In seinem jüngst erschienenen Buch "Rechter Terror" schreibt Steinhagen über die Strategie der Gewalt. Ausgehend vom Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke belegt er die Jahrzehnte lange Weigerung der Politik, die Gefahr des Terrors von rechts ernst zu nehmen. Das Attentat auf Lübcke war ein Wendepunkt, aber erst nach dem Anschlag von Halle und den rassistischen Morden in Hanau heißt es nun zumindest offiziell: Rechter Terror ist die größte Gefahr für Deutschland. Dabei seien die Antennen für diese Bedrohung bei von Rassismus Betroffenen ungleich feiner, so Steinhagen:
"Diese Menschen haben viel mehr Erfahrung damit, wie es einem geht, wenn man keinen deutsch klingenden Nachnamen hat und auf einer Behörde vorstellig wird, um zum Beispiel eine Anzeige zu stellen. Weil sie wissen, dass sie viel stärker gemeint sind als "wir alle", wie es dann immer heißt, wenn so was passiert ist."
Früher intervenieren und aufklären

Die Akten im Prozess sind geschlossen. Der Theatersaal ist ein Ort, an dem die Taten und ihre Folgen noch verhandelt werden. Semiya Şimşek hält solche Projekte zwar für wichtig, betont aber: "Wir müssen schon ganz früh ansetzen, die Ideologien von rassistischen Eltern zu beeinflussen, die Öffentlichkeitsarbeit müsste in den Schulen stattfinden."
Während in Weimar das Theater an 17 Abenden sein Publikum mit jeweils einem anderen Prozesstag konfrontiert, stellte der hessische Verfassungsschutz seinen Bericht zum vergangenen Jahr vor: Die Zahl extremistischer Gewalttaten habe sich fast verdoppelt. Die größte Gefahr, so der Verfassungsschutz, gehe weiterhin von Rechtsextremen aus.
Autorin: Petra Böhm
Stand: 06.09.2021 09:03 Uhr
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