So., 15.01.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
"Seaside Special" – ein Dokumentarfilm erkundet die britische Seele
Egal wie mächtig der Wind die Wellen an diesen Ort treibt, seit 40 Jahren gibt es diese Show am Ende der Seebrücke: das "Seaside Special", das als letzte ihrer Art. Es ist ein Platz wie aus der Erinnerung, an dem sich Publikum wie Künstler gleichermaßen für einen Moment vor einer wegrutschenden Welt retten können.
"Das sind 500 Sitzplätze, je nach Ebbe und Flut zehn Meter über dem Meer. Und dort wird zwei Mal am Tag im Sommer und einmal am Tag im Winter ein traditionelles Varieté aufgeführt", erklärt Jens Meurer, Regisseur des Films "Seaside Special". "Ehrlich gesagt hab ich mich gefragt: 'Oh Gott, was wird das denn?!' Und es hat keine zehn Minuten gedauert und ich hab mich total verliebt in diese Show, dieses so handgemachte und skurrile Setting. Ich dachte, irgendwann machst du mal n Film drüber, das musste festhalten. Und der Brexit hat das dann so ein bisschen provoziert, dass der Moment gekommen ist, da jetzt wirklich einen Film drüber zumachen."
Mikrokosmos der englischen Seele

Cromer ist ein überschaubarer Ort in Norfolk an der Ostküste Englands. Jens Meurer hat in Oxford Geschichte studiert. In Cromer mit seiner Seebrücke hat er 2019 einen dankbaren Mikrokosmos der englischen Seele gefunden, zerrissen von der Brexit-Entscheidung. "Jeder von denen in meinem Film – seien das jetzt die Leute aus der Besetzung der Show oder die Menschem aus Cromer – steht irgendwo", sagt Meurer. "Das ist so ein polarisierender Moment, dass es niemanden gibt, der nicht irgendwo eine Position dazu hat. Man ist da sozusagen der Therapeut, um, wenn die jetzt mir mir sprechen, nicht sofort einordnen zu müssen: Ist das jetzt mein Feind oder mein Freund?"
Die Verwerfungen durch den Brexit, der Riss durch die Stadt, auf der Seebrücke zur "Seaside Special Show" finden alle wieder zusammen.
Eine Revue so unperfekt wie das Leben
Jens Meurers Dokumentarfilm ist eine warmherzige und humorvolle Beobachtung – "Geld hast du, du gibst es aber scheinbar nicht für Kleidung aus" – eines von den Zeitläufen geplagten Küstenortes, der in einem eigentümlichen, antiquierten Spektakel seinen Zusammenhalt hat. Hier stehen keine spektakulären Stars auf der Bühne. Die Revue ist mit Schweiß, Leidenschaft, Anstrengung und Liebe erarbeitet und am Ende so unperfekt wie das Leben der meisten im Saal. Das ist anrührend und amüsant. "Eigentlich sehnen sie sich – das ist ja völlig aktuell – nach versöhnlichen Zeiten", sagtRegisseur Meurer, "und das ist sowas Menschliches, das ist total gesund heutzutage, dass man in Zeiten von Populismus und Spaltung – vorsichtig jetzt kommt der politische Teil – dass man sieht, dass man das auch überwinden kann, indem man nah beieinandersitzt und auch mal miteinander lacht."
"Seaside Special" ist ein optimistischer Film über eine Trennung. Einen Liebesfilm an Großbritannien nennt Jens Meurer seinen Film auch. Und fürwahr: Marmor, Stein und Eisen bricht, aber …
Autor: Marcus Fitsch
Stand: 16.05.2023 12:16 Uhr
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