SENDETERMIN So., 20.11.22 | 23:05 Uhr | Das Erste

Die DNA der USA

Warum die Krise der US-Demokratie noch nicht gebannt ist

PlayWarum die Krise der US-Demokratie noch nicht gebannt ist

Donald Trump kandidiert wieder, doch er ist geschwächt. Die rote Welle bei den Kongresswahlen blieb aus. "Das ist ein Zeichen, dass das Pendel langsam umschlägt", findet Evan Osnos. Doch andere Republikaner stehen in den Startlöchern und schüren weiterhin Wut gegen Migranten oder sexuelle Minderheiten. "Das Problem besteht weiter, das ist klar, und wir müssen es an der Wurzel packen."

Für Finanzexpertin und Buchautorin Sandra Navidi ist klar: "Die Vereinigten Staaten befinden sich an einem Wendepunkt. Es entscheidet sich nichts als ob sie eine Demokratie bleiben werden oder sich möglicherweise in eine Autokratie verwandeln."

Wie steht es um die amerikanische Demokratie?

Evan Osnos ist Journalist und Pulitzerpreisträger. Viele Jahre war er als Korrespondent des "New Yorker" im Ausland, zuletzt in China, wo er im totalitären System immer wieder auf die Werte der amerikanischen Demokratie verwies. Die erkennt er nicht wieder als er zurückkehrt, kurz vor dem Sturm auf das Kapitol. Am 6. Januar 21 ist er als Journalist vor Ort.

"Ich habe dort mit einigen Leuten gesprochen. Alle sagten: Dies ist ihre erste Reise nach Washington! Wie seltsam dachte ich, sie haben sich von der amerikanischen Politik so entfremdet, dass sie zum ersten Mal zum Kapitol kommen – um es anzugreifen", sagt Osnos.

"Das zeigt, wie weit sie sich entfernt hatten von der Politik und dass unser politisches System total isoliert ist und immer selbstbezogener geworden ist."

Ein tief polarisiertes Land

"Mein wütendes Land" heißt sein Buch. Osnos reiste dafür an Orte, die er schon seit Jahrzehnten kennt. Zuerst Greenwich, bei New York, wo er aufgewachsen ist. Greenwich war immer schon wohlhabend, aber nachdem viele Hedgefonds-Manager aus New York hierher in ihre Villenschlösser zogen, sei dieser Ort nichts mehr für Normalverdiener. "Dieser Ort hat einfach nichts mehr mit dem Rest des Landes zu tun", sagt Osnos. "Das Wohlstandsniveau ist völlig abgehoben von dem, wie es noch vor einer Generation war."

Er trifft Menschen, deren Lebensgeschichten für ihn symptomatisch für den Zustand des Landes sind – wie den ehemalige Arzt Chip Skowron. Als Hedgefonds-Manager hat er sich auf Gesundheitsfonds spezialisiert. Noch lukrativer wurde es, als er – wie viele – Insider-Infos kauft. Amerikas Elite habe den moralischen Kompass verloren, sagt Osnos.

"Einige der mächtigsten und prominentesten Menschen des öffentlichen Lebens haben das Gesetz jahrelang auf extravagante Weise ignoriert. Und wenn sie es können, warum kann ich es dann nicht? Das führt uns zu kulturellen Fragen, Fragen der Fairness, dazu: Was bin ich wert, was die anderen? Und dazu, wie sehr wir uns als Teil eines gemeinsamen Projekts fühlen." Nach fünf Jahren Gefängnis zieht Chip Skowron zurück in sein Haus auf dem Hügel in Greenwich.

Reece Clark’s Geschichte spielt in Chicago, wo Ungleichheit und Diskriminierung besonders stark sind, etwa bei der Bildung. Er erzählt Osnos, dass seine Eltern sich den Busfahrpreis zur besseren Schule nicht leisten konnten. Dem begabtem Schüler Clark bleibt so ein Aufstieg verwehrt. Er schließt sich einer Gang an, muss wegen Schießerei ins Gefängnis.

"Wenn Du in Chicago auf der Straße ein Verbrechen begehst, ist es sehr wahrscheinlich, dass du für lange Zeit ins Gefängnis musst. Und danach verhindern die Gesetze, dass du einen ordentlichen Arbeitsvertrag bekommst", erklärt Osnos. "Du darfst nicht wählen, kannst nicht so einfach ein Haus kaufen. Mir ist klar geworden, dass meine Geschichten im Buch zusammenhängen."

"Alles ist möglich" ist vorbei

Das Versprechen, das jeder es durch Fleiß oder Talent schaffen kann, gilt nicht mehr. Sagt auch die deutsche Unternehmensberaterin Sandra Navidi. Seit 20 Jahren lebt sie in New York und beschäftigt sich mit dem besonderen Charakter der Amerikaner. Als eingewanderte Europäerin analysiert sie die "DNA der USA".

"Das manifestiert sich insbesondere in ihren Werten. Also der ausgeprägte Individualismus, die Wahrnehmung, dass man aus einer außergewöhnlichen Nation stammt, die allen anderen überlegen ist", sagt Navidi. "Dadurch, dass jeder sich dort neu erfinden konnte und vor allen Dingen in den Anfängen des Landes alles neu erschaffen konnte, gibt es eine Denkkultur praktisch ohne Grenzen."

Navidi beschreibt, wie die amerikanische "Alles-ist-möglich-Kultur" dazu verleite, auch alternative Realitäten als "möglich" zu behaupten. Wer reich ist, habe offensichtlich den "amerikanischen Traum" geschafft, werde bewundert und selten angezweifelt.

"Das sind alles Menschen, die gewohnt sind, sich die Wirklichkeit zum Untertanen zu machen und damit äußerst erfolgreich gewesen sind. Sie ziehen andere in ihren Bann. Elon Musk hat ja lange Zeit darüber fabuliert, ob wir überhaupt in der Realität leben oder in einer Simulation. Und hat das auch erklärt, warum das der Fall sein könnte. Und er steht damit nicht alleine da."

Die Manipulation der Wahrheit

Donald Trump habe das perfektioniert: die Manipulation der Wahrheit. Irgendwann folgten ihm die Menschen ohne zu hinterfragen. Sandra Navidi hat mit Wählern gesprochen, die von Trumps Steuergeschenken nur wenig selbst profitierten: Was denken sie über seine Steuerpolitik, die vor allem den Reichsten 15 Prozent zugutekommt? Viele antworten: Die Top 15 Prozent hätten dafür auch hart gearbeitet. "Das ist eine sehr amerikanische Einstellung", sagt Navidi.

Diese Einstellung komme den Republikanern gelegen: zurückfahren von Sozialleistungen, abgeschottete Eliten. Was Navidi besonders besorgt, ist die Einflussnahme auf den Obersten Gerichtshof. "Die Richter am Supreme Court, die sozusagen gepflegt wurden seit der Universität durch die Federalist Society. Das ist im Grunde genommen ein Vehikel für Geld von reichen Parteifinanziers, die seit Jahrzehnten daran arbeiten, konservative Nachwuchsjuristen von Universitäten abzuwerben. Also die bestimmen praktisch hinter den Kulissen, wer wo Richter wird, und geben das der Politik vor."

Die obersten Richter können Grundrechte zurücknehmen, wie beispielsweise das Recht auf Abtreibung. Frauen droht nun in einigen Staaten unter anderem bei einer Fehlgeburt eine Anklage wegen versuchten Mordes. Das Abtreibungsverbot sei ein Grund, warum das Pendel langsam umschlägt, meint Evan Osnos. Es mobilisiere mehr junge Menschen zur Wahl zu gehen. Ein anderes Problem, das zur Entfremdung aller Politiker von den Bürgern führt, sei der Lobbyismus: Wieviel ein Abgeordneter an Wahlspenden annehmen darf, ist unbegrenzt. Statistisch verbringt er mehr Zeit mit Menschen, die seine Kandidatur finanzieren, als mit Wählern, die das nicht tun. 

"Als ich nach Washington zog, bestand unser US-Kongress zu 82 Prozent aus Männern, zu 83 Prozent aus Weißen und zu 50 Prozent aus Millionären, was nicht der amerikanischen Bevölkerung entspricht", sagt Osnos. "Und solange das so ist, wird die Politik sich immer weiter von der öffentlichen Meinung entfernen. Und die Leute werden das nicht einfach ruhig hinnehmen. Sie werden wütend werden. Und wir haben die Folgen davon schon gesehen.”

Es habe eine Generation gedauert, in diese Demokratiekrise zu schlittern – es würde eine weitere dauern, aus ihr herauszukommen. Wohin das Pendel schlägt? Evan Osnos hat in jedem Fall Hoffnung.


Beitrag: Katja Deiß

Sandra Navidi "Die DNA der USA: Wie tickt Amerika?"
432 Seiten, 28 Euro
FinanzBuch Verlag, Oktober 2022

Evan Osnos "Mein wütendes Land: Eine Reise durch die gespaltenen Staaten von Amerika"
635 Seiten, 32 Euro
Suhrkamp Verlag, Oktober 2022

Stand: 20.11.2022 23:05 Uhr

4 Bewertungen
Kommentare
Bewerten

Kommentare

Kommentar hinzufügen

Bitte beachten: Kommentare erscheinen nicht sofort, sondern werden innerhalb von 24 Stunden durch die Redaktion freigeschaltet. Es dürfen keine externen Links, Adressen oder Telefonnummern veröffentlicht werden. Bitte vermeiden Sie aus Datenschutzgründen, Ihre E-Mail-Adresse anzugeben. Fragen zu den Inhalten der Sendung, zur Mediathek oder Wiederholungsterminen richten Sie bitte direkt an die Zuschauerredaktion unter info@ard.de. Vielen Dank!

*
*

* Pflichtfeld (bitte geben Sie aus Datenschutzgründen hier nicht Ihre Mailadresse oder Ähnliches ein)

Kommentar abschicken

Ihr Kommentar konnte aus technischen Gründen leider nicht entgegengenommen werden

Kommentar erfolgreich abgegeben. Dieser wird so bald wie möglich geprüft und danach veröffentlicht. Es gelten die Nutzungsbedingungen von DasErste.de.

Sendetermin

So., 20.11.22 | 23:05 Uhr
Das Erste

Produktion

Hessischer Rundfunk
für
DasErste